Samstag, 2. Juni 2012

RETSINA MIT CHRISTINA



Ja, die Situation ist verfahren, verzwickt, vertrackt. Zu jeder Haltung zum Themenkreis „Griechenland-Eurokrise“ lässt sich unauffällig die Gegenposition einnehmen. Wer sich eine Meinung bilden will, bleibt hier in besonderem Maße von den Meinungen anderer abhängig. Von Fachleuten. Schlimmer: von Menschen, die beispielsweise selbst lange Zeit mit Finanzen jongliert oder behaupten, irgendwie geartete spezielle Kenntnisse zu haben. Politiker. Entscheider. Meinungsbildner – eben dieser ganze Zirkus TV-kompatibler, verkopfter dickköpfiger Wichtigtuer. 


Die eigene Meinungsbildung wird so zur großen Vertrauenssache. Eine vage Ahnung. Ein laues Gefühl für oder gegen etwas. Schlechtenfalls dann im Ergebnis ein ausgemachter Blödsinn. Ist das die Krankheit unserer überinformierten, ins Maßlose unsortierten Zeit? Ein Mangel an Wissen aus dem Überangebot heraus? Quatsch. Vielleicht richtiger: ein Mangel an persönlichem Erleben? 

Die Bildzeitung titelt reißerisch und wohl anlehnend an Kaiser Augustus’ Jammergeschrei : "Varus, gib mir meine Legionen wieder!": „Griechen, was habt Ihr mit unseren Milliarden gemacht?“

Und so fragt sich der empörte Leser folgsam: „Ja, zum Henker, was haben die mit unseren Milliarden gemacht?“ 


Klar, eine Milliarde ist eine obszön hohe Summe. Und in der Krise sind laut BILD annähernd 150 Milliarden Euro nach Griechenland „gepumpt“ worden. Also Pi mal Daumen 450-mal Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche oder die Bilanzsumme des kompletten Volkswagen Konzerns von 2009. Wer bitte soll das noch verstehen? 

Wenn wir sorgsam ermittelte Fakten und Zahlen nicht mehr in einen gelernten Wertezusammenhang stellen können, erscheint alles nur noch surreal.

Nun heißt es obendrein, dass die Gelder überhaupt nicht bei den Griechen angekommen sind oder für irgendwas ausgegeben wurden, dass dort irgendeine irgendwie ins Stocken geratene Wirtschaft hätte ankurbeln können. Ja wie denn auch? Es gibt dort kein Pendant zu Volkswagen oder Vergleichbares wie HSBC, Allianz oder Gazprom.
Griechenland findet auf der Liste der 100 größten Unternehmen Europas schlicht nicht statt. Selbst wenn man die Liste auf 500 Top-Unternehmen erweitern würde, wäre wenig Staat zu machen mit den Kindern des Zeus.

Der Inselreichtum der Reederfamilien reicht heute allenfalls für die hinteren Klatschspalten. Dem eigenen Land sind sie längst nutzlos geworden. Und Steuern zahlten die Herren auf den weißen Yachten sowieso nie. Man wolle ja nicht noch die wenigen guten Arbeitsplätze gefährden, berichtete eine ZDF-Doku mit dem Titel „Die Griechenland-Lüge“.

Ich jedenfalls werde jetzt in der Griechenlandfrage anfangen, die Dinge persönlicher zu nehmen. Ein Rückzug ins emotionale Fach. Die Sache mal beim Vornamen nennen. Und wie fündig man da wird!

Soweit ich zurückschauen kann, bin ich diesem Land verbunden, ohne dass ich dafür mit irgendeinem Griechen blutsverwandt sein müsste. Zunächst einmal scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass "Döner" früher "Gyros" hieß. Nein, das ist nicht albern, das hat auf unfreiwillige Weise sogar hohen Symbolwert für die ganze Situation. 
Wir bestellten die Fleischfetzen im Teigmantel auch beim Türken noch jahrelang als „Gyros“. Entsprechend stand dann auch "Gyros" gleichberechtigt neben "Döner" im Antalya-Grill auf den Leuchtkästen über der Edelstahl-Fritterie.

Eine erstaunliche Zwiesprache angesichts der damals aktuellen griechisch-türkischen Zypernkrise und weiterer kleinasiatischer Rangeleien auf dem Ex-Territorium des untergegangenen Osmanischen Reiches. Ja, den pfiffigen Imbiss-Türken der ersten Generation ging's in Deutschland noch ums Geschäft, um die D-Mark, und nicht um nationalgerichtliche oder – Gott behüte – gar um religiöse Befindlichkeiten. Zwar war der Scheidebecher beim "Sokrates" um die Ecke noch ein Ouzo. Aber auch der wurde später im „Antalya“ einfach in „Raki“ umgetauft. Was man gratis nachschluckte schmeckte identisch. 



Und jetzt also direkt: „from stomach to heart“: Mutter erlaubte eine InterRail Fahrt nach Griechenland. Und noch ein paar Tage später war auch der CDU-Bürgermeister des kleinen Nachbardörfchens überredet, seiner bildhübschen Tochter Christina ebenfalls ein Ticket zu spendieren. Drei Tage Fahrt bis zum Peloponnes. Wir waren gerade fünfzehn Jahr alt, es war eng in den Zügen, eng genug für das erste ganz große Verliebtsein.

Die griechische Abendsonne schien über die schattenspendenden Olivenbäume hinweg, an denen sich wohl schon die Kreuzfahrer erschöpft niedergelassen hatten. 
Campingplatz Olympia. Aus dem Kuss im Zug wurde eine muntere Rangelei im engen Zelt. Alles weitere kann man sich ja denken. Nachgespült mit diesem harzigen Wein aus den changierenden Aluminiumhenkelbechern. Retsina mit Christina.

Und 365 Deutsche Mark für dieses komfortable Eisenbahn-Ticket, das es ermöglichte, unerreichbare Sehnsuchtsorte der Klassiker in reale Erlebnisorte umzugestalten. Eine Sehnsucht, die sich später gut eingerichtet hat: Mykene, Epidauros und natürlich Athen! 
Reihenweise lagen die InterRailer eingerollt in ihren Schlafsäcken auf den Bahnsteigen ohne dass sich die gelassenen Athener wesentlich daran störten. Zurück zuhause hieß der gemeine Standardspruch: Die Griechen sind die besseren Türken. Hinter vorgehaltener Hand selbstverständlich.

Und ganz sicher dachte kein Athener damals: „Na, lassen wir die Deutschen da mal auf dem Bahnsteig liegen und Erinnerungen sammeln. Später bestrafen wir sie dafür dann mit einem der größten Raubzüge in der europäischen Geschichte!“ Ganz sicher nicht. Die wie leibhaftig aus Kantzanzakis „Alexis Zorbas“ entstiegene verhunzelte schwarzgewandete Alte auf der Insel Zankinthos, teilte ihren frischen Tomatensalat mit der Tochter des CDU-Bürgermeisters. Ich habe sogar noch ein Foto davon. 



Warum ich das nun alles erzähle? Weil ich an ein nobles Gedicht nicht glauben mag. Griechenland muss man mit dem Herzen begreifen, um es mit dem Herzen verteidigen zu können. Wenn also Günter Grass Jürgen Habermas für einen Effekt beklaut, jenen Habermas, der angesichts der sich anbahnenden Griechenlandkatastrophe schon 2011 in der FAZ ausrief: „Rettet die Würde der Demokratie“ und „Es fehlt am politischen Willen zur globalen Einigung, weil die Institutionen fehlen, die eine supranationale Willensbildung und die globale Durchsetzung von Beschlüssen erst ermöglichen würden“, dann lügt ein großes deutsches, nein: ein europäisches Herz!

Und dann spielt und fummelt er doch nur wie Habermas an einer intellektuellen, einer ökonomischen oder noch ärger: an einer philosophisch unterfütterte Lösung herum. 


Aber was bedeutet es nun, etwas als Herzensangelegenheit zu begreifen? Ein Romantikergefasel? Wie kann man einerseits Grass und andererseits diese Wirtschaftshalbweisen hinter sich lassen? Diese ewig falschen Propheten? Gibt es tatsächlich so etwas wie eine Sehnsucht nach der Antike, als Teil unseres kollektiven Unbewussten, als Teil unserer Identität? Und werden wir, wenn wir das aufgeben, zu US-Amerikanern? Kann es sein, dass uns Griechenland als Teil von uns von den Amis unterscheidet?

Damals als Griechenland in die EU aufgenommen wurde, ist das wohl noch so verstanden worden. Mit dem Fall der Mauer ist es wieder in Vergessenheit geraten. Und diese Merkels verstehen das natürlich nicht mehr. Ähnliches trifft übrigens auch auf Portugal zu. Wer schon einmal in Portugal war, wird die Brückenfunktion dieses Landes sofort gefühlt haben. 


Ich bin also sicher: Griechenland ist nur zu retten, wenn wir dieses wunderbare Land mit diesen wunderbaren Menschen endlich mal als unsere Herzensangelegenheit begreifen. Und ja: zu diesem Bekenntnis gibt es dann auch keine irgendwie geartete Gegenposition mehr.

Diesmal mit ganz herzlichem Dank an Bernhard und unsere Elfe.

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