Donnerstag, 4. September 2014

DIE INTERIMSNOMADEN


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Ich weiß es gar nicht, gibt es überhaupt Leute, die nie in den Urlaub fahren? Sicher, Alte, Kranke oder anderweitig Eingeschränkte. Aber an die dachte ich nicht. Also ja, ich glaube schon, ohne es auf der Heimfahrt aus dem Urlaub googlen zu können, dass es Menschen gibt, die immer am selben Ort verweilen, für die Heimat schon deshalb zum Gefängnis wird, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, zu verreisen.

Heißt, Urlaub für alle bräuchte also eine monatliche Rücklage um einmal im Jahr für ein paar Wochen die Heimat von einem fernen Punkt aus zu betrachten. Es müsste also so etwas wie ein irgendwie verbrieftes Recht auf Urlaub geben, so wie es ein Recht auf Gesundheitsvorsorge gibt.

Doch, ich meine mich zu erinnern, das es für Hartz4ler und Arbeitslose eine bestimmte Zeitspanne gibt, in der diese nicht für Vermittlungen zur Verfügung stehen müssen. Eine Zeitspanne, die mit „Urlaub“ hinreichend begründet ist. Und es gibt Zuschüsse für Kinder, die Klassenfahrten oder Ferienfreizeiten machen.

Perspektiven verändern. Aber nicht als staatliches Belohnsystem wie etwa im III Reich dank „Kraft durch Freude“. Mein Großvater unternahm eine solche Reise wohl irgendwann 1940 berichtet die Mutter, als wir jetzt Richtung Norwegen aufbrachen. Opa war damals ungefähr so alt, wie ich es heute bin. Er brachte meiner Mutter damals eine kleine, mit Sägespänen gefüllte Matrosenpuppe mit. Mutter nannte sie „Hein“.

Hein ging 1945 auf der Flucht verloren oder er wurde nicht für Wert empfunden, vor der heranrückenden Roten Armee gerettet zu werden. Was aus Hein geworden ist, wäre eine interessante Frage, die aber wohl für immer unbeantwortet bleiben muss. Heins Nachfolger hießen Peter und Edeltraud.

Nachkriegspuppen. Weniger geliebt. Nur gemocht. Für Sie als Leser könnte es interessanter sein, zu erfahren, das der Opa damals ausgerechnet mit der Wilhelm Gustloff nach Norwegen fuhr. Jenes Schiff, das später für tausende Flüchtlinge zum Massengrab in der eiskalten Ostsee wurde.

2014 brettern wir schon eine Stunde nach der Ankunft mit dem 30 PS Yamaha-Motorboot über die Fjorde, während die Frauen noch auspacken und sich über die fehlenden Schränke beklagen. Ich hab's schon wieder vergessen, aber der Jüngste berichtete auf der Heimfahrt irgendwo zwischen Aalborg und Aarhus, dass unsere ersten Fänge Minuten nach dem Auswerfen ein kleinerer Dorsch und ein läppischer Köhler waren.

Die Sache fing also zumindest vielversprechend an. Der norwegische „Sommer des Jahrhunderts“ allerdings, von dem ein guter Freund noch Wochen zuvor begeistert sprach, als er stolz Fotos von den zwei selbstgefangenen Makrelen ins Facebook hämmerte, war beendet. So hatten wir den Herbst des Jahrhunderts. Denn so fühlte es sich drei Wochen lang an: wie eine ziemlich milde dritte Jahreszeit mit zwei sonnigen Tagen, die wir im letzten Norwegenjahr noch an einer braungebrannten Perlenkette aneinanderreihen konnten.

Hatte uns das Ferienglück der letzten Jahre – immer die beste Hütte, die tollsten Leute, die spannendsten und überraschendsten Erlebnisse und das beste Wetter – zum ersten Mal verlassen?

Nein, denn es kam dieses Mal aus einer anderen Richtung und als schuppige Entschuldigung. 132 Makrelen schon am vierten Tag in der Truhe. Die Kinder stehend im Boot entrissen dem düsteren Fjord eine der schillernden Schönheiten nach der anderen. Miniaturversionen vom Thunfisch. Herrliche Tiere.
Schmackhafte Omega-3-Bomben. Und welcher Vater würde sich da trauen, diesen Reigen aus jagen, fangen und killen vor der Zeit zu stoppen?

Nun gut, wer schon einmal Makrelen geangelt hat, weiß, das 132 Stück ein ziemlich blutiges Gemetzel bedeuten. 132 mal den Totschläger zücken und zwischen die starren Augen sausen lassen - ein Butbad im schneeweißen Boot. Und die sportlichen Viecher zappeln dann noch eine Weile weiter. Elektrische Entladungen über Minuten. Die Angeln sausten derweil gnadenlos weiter.

Glänzende Kinderaugen versus ermattender Makrelenblicke. Und die Kollegin, die ebenfalls etwas früher an selber Stelle ihren „Sommer des Jahrhunderts“ erlebte, jagte, erlegte und zerlegte sogar den Dornhai, der hier seit 2010 unter Schutz steht, aber darüber lachen die Einheimischen herzlich, denn der Dornige beißt hier immer als erstes, wenn man nicht zufällig ganz tief in so einem Makrelenschwarm zu versinken droht.

Einen Fisch auszunehmen, ist noch einmal etwas anderes, als ihn nur zu fangen. Und nun stellen Sie sich diese unschön zu beschreibende Sauerei einmal multipliziert mit 132 vor. Nicht, das man sie nicht essen oder einfrieren und mitnehmen könnte, aber bis zum Filet ist es ein weiter blutiger Pfad.

Also sagen wir es frei heraus, die Makrele hat keine Fürsprecher. Die Hälfte gibt es beim Penny für 1,49 Euro. Fest im Sortiment, aber wohl kein Megaseller, dafür sieht das geräucherte Stück einfach nicht attraktiv genug aus. Frisch hingegen, auf dem Grill in Alufolie gebacken, eine Augenweide, ein Gaumenschmaus bis zur Gallenkolik. Aber selbst dieses kleine gallige Miststück gewöhnte sich gottseidank irgendwann.

Aber rasch noch zurück zur Eingangsfrage. Ja, der Mensch ist ein Suchender. Das liegt in seiner Natur. Urlaub ist, so man nicht All-inclusive verreist, mehr als nur eine notwendige gewerkschaftlich dem Arbeitgeber abgetrotzte Erholungspause. Also nicht „Kraft durch Freude“, sondern analoge und zeitlich eng limitierte Ersatzbefriedigung für einige menschliche Grundbedürfnisse wie beispielsweise Neugierde, Abenteuerlust, Entdeckerfreude. Inspiration. Eben die absichtsvolle Begegnung mit dem Fremden.

Ich habe nie verstanden, was Freunde und Kollegen in diesem Zusammenhang dazu veranlasst, über Norwegen die Nase zu rümpfen, als reise man nur etwas weiter ins dänische Hinterland. Wer nach drei Stunden Fährfahrt an norwegischen Gestaden anlandet, der betritt echtes Neuland. Dem füllt die klarste Luft die Lungen mit Hoffnung. Immer wieder. Und darum geht es doch.

Der ideale Verstärker 2014 im Reisegepäck übrigens dieser sensationelle – ok, Jahrhundertschriftsteller ist zu dicke, aber : – Schriftsteller des Jahrzehnts, Karl Ove Knausgård, der neue Literatur-Megastar aus … genau: Kristiansand/Norwegen, der mit „Min Kamp“ die norwegische Seelenlandschaft über tausende von Seiten in einem phänomenalen Ich-Striptease hingeblättert hat. Vertrauen Sie mir, der Junge schreibt, als zöge sich der Fjord-Dornhai höchstselbst die festsitzende Sandpapierhaut vom Filet. Filetliteratur! Abenteuerurlaub Norwegen mit zusätzlicher Knausgård-Meta-Ebene.

Und dann sind drei Wochen schon wieder vorbei. Und man quält sich stundenlang über die Autobahn Richtung Heimat. Weg von einem Abenteuer, das nun in der Rückschau bereits erscheint, wie eine Belohnung, eine Abgeltung irgendeiner Quälerei, die wir Arbeit nennen.

Und neue Arbeit wartet, die wieder zwölf Monate lang eine Abenteuer-Belohnung ansparen soll. "Ja sind wir denn verrückt?", fragen sich Woche für Woche etliche Deutsche bei VOX bei „Goodbye Deutschland“ und flüchten ins Dauer-Abenteuer, das dann aber doch wieder nur eine komplizierte Verlagerung des Arbeitsplatzes wird, wenn man überhaupt einen neuen bekommt. Die alte Heimat wird täglich fremder, die neue heimatlicher. Komischer Deal, oder etwa nicht?

Liegt die Lösung im Nomadentum? Und wie viel Nomade steckt noch im dänischen Wohnwagenbesitzer? Fast mehr Fragen als Makrelen. Und am Ende ist es natürlich wieder ganz schnöde eine Frage des Budgets, der Urlaubskasse, die gefüllt sein will. Schließlich machen wir mit vier Kindern und einer großzügigen Oma nicht mehr auf Rucksacktouristen.

Petri Heil!

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