Politik

Mittwoch, 1. Februar 2017

Altersrassismus, Schmutz- und Verleumdungskampagnen

Stefan Niggemeier antwortet auf Anfrage via E-Mail:
„Hallo Herr Wallasch, ich möchte Ihre Fragen nicht beantworten. Viele Grüße Stefan Niggemeier“

Worum ging’s? Der Blogger über den die TAZ einst schrieb, er sei „einer der unerschrockensten Journalisten der Republik“(1) teilte mit seinen 190 Tsd. Followern auf Twitter einen Artikel David Schravens, Geschäftsführer(2) des nach eigenem Bekunden „ersten gemeinnützigen Recherchezentrums“ Correctiv.(3)
Titel des Artikels: „Übergriffe und Wirkungen“.

Nun allerdings darf man sagen, wurde zunächst Stefan Niggemeier übergriffig, als er besagten Artikel via Twitter eine „Schmutz- und Verleumdungskampagne von Roland Tichy und anderen gegen correctiv.org“ nannte. Aber was schreibt David Schraven in seinem Artikel, dass Stefan Niggemeier zu so drastischen Formulierungen greift? Was hatte Roland Tichy geschrieben?(4)

Im Interview(5) mit Stefan Winterbauer (Chefred. Meedia) antwortet David Schraven auf die Frage, was er zur Tichy-Kritik an Correctiv sagt: „Tichy ist ein alter Mann.“ Das darf als Beleidigung verstanden werden. Denn für sein Alter kann der 62-Jährige ja nichts. Nebenbei bemerkt ist der neue SPD-Kanzlerkandidat altersmäßig gleichauf mit Tichy, aber das ist eine andere Baustelle.

Tichy übte Kritik an jenem Portal, das sich in Zukunft bei Facebook für umsonst als eine Art Faktencheck-Kampfdrohne mit Farbbeutelabwurf betätigen will. Wie war das aber, als ein David Schavren noch ohne Zuckerberg-Reinigungsauftrag mit heruntergezogener Kapuze unterwegs war?

Dankenswerterweise hatte das ausgerechnet der unerschrockene Herr Niggemeier recherchiert.(6) Denn noch im März 2014 führte(7) der Blogger einen David Scharven (der damals noch das Ressort „Recherche“ bei „WAZ“ leitete) als eine Art Kollegen-Anschwärzer vor. Nein, anders kann man es kaum umschreiben, wie Niggemeier sich da empört hatte. Schraven hatte sich nämlich per Twitter bei der ZEIT beschwert, dass dort ein Journalist Moritz Gathmann über die Ukraine schreiben dürfe, der wohl ausgerechnet auch bei „Russland heute“ publizieren würde.

Grund für Schravens Twitterei gegen Gathmann laut Niggemeier: „… er hat, was womöglich nicht ganz unwesentlich ist, eine andere Meinung zu den Vorgängen in der Ukraine als Gathmann. (...) Er fand einen Weg, sehr schnell etwas dagegen zu tun." Was Niggemeier empörte, war das Verhalten eines David Scharvens und noch mehr die Reaktion Wegners, der, das ist das Ergebnis der kurzen Zwischengeschichte hier, der sich bei Schraven via Twitter bedankte und erklärte: „Wir (…) haben die Zusammenarbeit beendet“.

Altersrassist David Schraven bekommt also unerwartete Schützenhilfe gegen Roland Tichy ausgerechnet von Stefan Niggemeier. Aber was schrieb denn nun Tichy, was beide gemeinsam so empörte? Oder echauffierte man sich hier aus ganz anderen Gründen? Fragen über Fragen, aber wie schon eingangs erzählt: „Ich möchte Ihre Fragen nicht beantworten. Viele Grüße Stefan Niggemeier.“

Beschauen wir also, was Niggemeier und Schraven wieder vereint und zu twitternden Wüterichen gemacht hat. Zunächst zitiert Tichy aus den Nachdenkenseiten.(8)
Dort findet man es „grotesk“, das ausgerechnet correctiv.org Facebook von fake-News befreien soll. „Und nun soll dieses „Recherchezentrum“, das bislang eher durch fragwürdige Kampfrhetorik denn durch saubere Recherchearbeit aufgefallen ist, also überprüfen, welche Meldungen auf Facebook echt und welche falsch sind?“, fragt man bissig.

Roland Tichy zitiert. Und er äußert Bedenken, dass ausgerechnet einer wie George Soros ebenfalls zu den Geldgebern gehört. Ebenso wie die Deutsche Bank. Hier fragt sein Artikel nach, ob es denn Zufall sei, das ausgerechnet diese Bank die Arbeit von correctiv.org unterstützt, die mit hunderttausenden von Euro eine Investigativ-Kampagne gegen die Sparkassen organisiert. Soll so ein Bankensystem zu Fall gebracht werden, fragt Roland Tichy. Ein System, über das der linke Oskar Lafontaine noch 2011 sagte: "Wir brauchen Sparkassen statt Zockerbuden" (9)

Es steht also die durchaus „heikle Frage“ der Finanzierung solcher Unternehmungen zur Debatte, wie sie Correctiv gegen die Sparkassen unternimmt. Und Roland Tichy fragt seine Leser: „Und nun kommt also Correctiv mit fragwürdiger Finanzstruktur und noch fragwürdigerem Vorgehen und will über Wahr und Falsch entscheiden? Wir alle verfügen über den größten Wissensspeicher der Welt, jeder von uns hat seine private Mammut-Bibliothek mit angeschlossenem Zeitungsarchiv: Die elektronische Suchmaschine. Dort finden sich Fakten, Fakten, Fakten. Wir müssen sie nur abrufen.“

Besonders perfide für Roland Tichy: Corrective legt zwar seine Spender und Unterstützer offen. Man darf nun schauen. Nur: kritisches Nachfragen ist verboten. Dann heißt es nämlich bei Schraven: „Nun wird diese Transparenz gegen uns gewendet, indem Zusammenhänge hergestellt werden, die es nicht gibt.

Und der so kritisierte David Schraven sattelt noch einen drauf, er spricht nicht nur vom „alten“ Mann, sondern jetzt auch vom „ehemaligen“ Journalisten Roland Tichy. Und dieser „ehemalige“ hätte sich eine Zahlung der Deutschen Bank „herausgepickt.“ Das wäre aber „aus der Luft gegriffen“. Denn die Sparkassenrecherche sei doch viel früher gewesen. Und man habe ja erst „Anfang 2016 die Deutsche Bank als finanziellen Förderer für unsere Bildungsarbeit gewonnen.“

Das entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, denn es unterschlägt dieses bei Correctiv so überaus perfektionierte Belohnsystem. Wir erinnern uns: Correctiv arbeitet unbezahlt von und auf facebook. Schraven erklärt es im Interview mit meedia so:

„Wenn wir später wissen, wie die Arbeitsabläufe sind und wie viel Arbeit das ist, wie viel Leute wir brauchen. Dann finden wir auch einen Weg, wie wir die Leute bezahlen können. Ich gehe nicht davon aus, dass wir Geld von unseren Spendern für die Arbeit auf Facebook ausgeben. Ich gehe aber davon aus, dass so eine Arbeit bezahlt werden muss.“


Man erledigt also eine Arbeit und geht fest davon aus, dass es später bezahlt wird. Aber das ist eine archaische Weisheit – herübergeweht aus einer patriarchalen Welt: Wer Mutti Blumen mitbringt, darf anschließend Sex erwarten. Herrje, na dann mal gutes Gelingen.

1 http://www.taz.de/!5167893/
2 https://correctiv.org/correctiv/geschaeftsfuehrung/
3 https://correctiv.org/blog/2017/01/29/uebergriffe-und-wirkungen/
4 http://www.tichyseinblick.de/tichys-einblick/eine-art-bundespruefstelle-fuer-fake-news/
5 http://meedia.de/2017/01/23/correctiv-chef-david-schraven-wir-sind-kein-dienstleister-wir-arbeiten-nicht-fuer-sondern-auf-facebook/
6 http://www.stefan-niggemeier.de/blog/17470/im-wortlaut-der-code-of-ethics-von-zeit-online/
7 http://www.stefan-niggemeier.de/blog/17427/kurzer-prozess-zeit-online-und-der-geschasste-150-euro-reporter/
8 http://www.nachdenkseiten.de/?p=36631
9 http://www.sueddeutsche.de/politik/oskar-lafontaine-im-gespraech-wir-brauchen-sparkassen-statt-zockerbuden-1.1170962

Samstag, 22. Oktober 2011

WAHRHEIT UND WAHRNEHMUNG

Ein Nachruf – "Inschallah Onkel Oberst!"



Gaddafi ist tot. Seine goldene Pistole landet sicher bald in einem neuen Rebellenmuseum in Tripolis. Schulkinder werden dann Jahrzehntelang etwas über eine Zeit erfahren, die, schon während sie ablief, bis zur Unkenntlichkeit deformiert wurde. Denn der Krieg um die Herrschaft in Libyen gehört sicher zu den surrealsten militärischen Auseinandersetzungen rund ums Mittelmeer. Und das lag nicht an der surrealen Erscheinung Gaddafis, sondern zu großen Teilen an der ebenso operettenhaften Ausstattung seiner Gegnerschaft.

Wer fühlte sich bei der soggenannten Rebellenarmee nicht erinnert an ominöse Auseinandersetzungen der 1970er Jahre irgendwo im tiefen Afrika, via Tagesschau ins Wohnzimmer getragen? Die Sonnenbrillenarmee im Hawaiihemd. Auf weißlackierten privaten Toyota Pickups (ist das nun eigentlich gut für die Marke Toyota oder schlecht?) aufgeschweißte Maschinengewehre wie frisch vom Hollywood-Set. „Black Hawk Down“ und „Mad Max“ – die Ausstattungen der Hollywood-Regisseure sind stereotyp. Gerüchte verdichteten sich, dass die undisziplinierten jungen Männer auf den robusten Fahrzeugen für ihre mobilen Kriegsbasteleien tatkräftige Hilfe von ausländischen Diensten erhalten haben.

Ein in Deutschland studierender Libyer zeigt im deutschen Fernsehen stolz seinen selbstgedrehten wackligen Kriegsfilm von irgendeinem Freischärler-Angriff in Libyen und hält dann noch seinen Soldatenausweis in die Kamera. Den bekam er wohl für eine noch auszuzahlende Belohnung oder Rente. Wer weiß das schon. Man wundert sich allenfalls, welches Unternehmen diese Ausweise so schnell organisiert hat. Wer sich angesichts der immer gleichen Bilder noch erinnern konnte, erinnert sich an Demonstrationen gegen Gaddafi, die in Endlosschleife im TV übertragen wurden, bis einem auffiel, dass da überall grüne Pro-Gaddafi-Fahnen geschwenkt wurden, es also gar keine Proteste sein konnten. Die Anti-Demos, die echter schienen, zeigten scheinbar immer die selben hundert Maschinengewehr-in-die-Luft-Knaller, ohne das man dafür Verschwörungstheoretiker sein musste. Oder es waren immer die selben Journalisten, die einfach bei der immer gleichen Gruppe embedded waren. Das kennt man ja noch aus den IRAK-Kriegen der USA: spezielle Truppenteile mit Mitfahrgelegenheit für die Presse. Egal. Und nachdenklich stimmend.

Und die so hochgelobten Social Media: Facebook, Youtube und Co, die angeblich alle Propaganda aufzulösen in der Lage sind? Komplettausfall bis auf die üblichen Verdächtigen. Immer die gleichen wackeligen, verschwommenen Filmchen und Bilder, denen man nach ein paar Wochen gerne unterstellt hätte, sie wäre alle von dem selben untalentierten Deppen gefilmt worden. Ob nun live oder wie die Mondlandung im Studio – nein, das ist natürlich Quatsch, aber die Nähe zum Quatsch ist hier fließend.

Wie oft war die Flucht Gaddafis vermeldet worden? Venezuela wurde am häufigsten genannt, aber selbst Nordkorea war ernsthaft diskutiert worden. Und immer wenn Gaddafis Flucht offiziell vom Rebellenrat bestätigt worden war, kamen weitere junge Männer, die entweder ihre Semesterferien nutzten oder ihre Fahrräder an den Straßenrand stellten, sich irgendwo an einem offenen Waffenlager bedienten, um schnell noch Teil der Geschichte zu werden.

Ja tatsächlich, angeblich sollen auch Studenten dabei gewesen sein, auch wenn einem die Mehrzahl der Rebellen schlicht wie Rütli-Schulabbrecher vorkamen. Ja doch: „Rebellen“, denn einen „Revolutionär“ konnte man ja keinen von denen nennen, den Titel hatte Gaddafi in ganz Afrika schon seit über 40 Jahren ganz für sich. Der Oberst war der Fidel Castro des Kontinents: Gefeiert. Charismatisch. Gutaussehend. Und erfolgreich.


(Gaddafis fünfter Sohn Mutassim kurz vor seiner Erschießung. Auch er wurde nach seiner Gefangennahme hingerichtet.)


Aber irgendwann ist dann übel was schiefgelaufen. Wo Castro weit über 500 Attentate des CIA und der Contras scheinbar stoisch – und vor allem lebend – hinter sich gelassen hatte, muss Gaddafi dünnhäutiger gewesen sein. Oder er hatte dieses Ding mit der Vorsehung drauf, das auch bei Hitler was am Hirn abgenagt haben muss. Psychologen können das nun nicht mehr klären. Castro wartet auf das unvermeidliche Attentat der Natur, das jeden ereilt und Gaddafi kann noch nicht in die Diktatorenhölle, weil er noch eine Weile auf einer schäbigen Matratze liegen muss wie „Tralala“ in „Letzte Ausfahrt Brocklyn“. Ausgestellt wie Schlachtabfall nach einer Greenpeace-Aktion. Zerlöchert. Blutend. Und ohne Hemd in einem Kühlhaus, vor dessen Tür sich Hunderte, vielleicht Tausende geduldig aufgereiht haben. Jetzt mit gezücktem Handy statt Kalschnikow.

Tot ist er ja schon. Nun geht’s ums Familienalbum. Die stärkste Gewissheit besteht eben nicht darüber, dass nun alles gut wird im Land – 80% der in Libyen lebenden Menschen sind in der Gaddafi-Ära geboren – die stärkste Gewissheit ist die, jetzt gerade libysche Geschichte mitzuerleben, die genug Potenzial hat, auch zum größten Moment des eigenen Lebens zu werden. Wenn man jetzt nur dicht genug am Geschehen bleibt. Und so ein Foto ist der maximale Beweis, dabei gewesen zu sein. Das hat dann Strahlkraft für Generationen. Diese Zugehörigkeit kann einem keiner mehr nehmen: Ich war dabei!

Sie wird in Zukunft auch über Erfolg und Misserfolg, über Partizipation oder gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit entscheiden. Die Wächter der Überreste des alten Mannes mit der seltsam haarlos (schon den Märtyrertod vorbereitet?) zerlöcherten Brust, der da im Smartphone und iPhone Blitzlichtgewitter erleuchtet wird, wissen übrigens genau um die Notwendigkeit dieser in der ganzen Welt mit Abscheu wahrgenommenen Foto-Session. Wer dürfte das verurteilen?

Dieser Bürgerkrieg ist nicht aus einem wechselnden Kräfteverhältnis entstanden. Hier haben westliche Interessen schlummernde Interessen mit altbekannten Mitteln aus der düsteren Wiege gehoben: Bomben, Bomben und nochmal Bomben. Unerreicht von ganz hoch oben auf die Köpfe geschmissen. Von ein paar eingeschleusten Spezialeinheiten am Boden dirigiert. Wer letztlich den Startschuss gegeben hat zu diesem menschenvernichtenden Irrsinn, bleibt Spekulation.

Klar, vieles wird noch herauskommen oder aus Reue von altersmilden Herren eingestanden werden: Aber der neue Status Quo wird auch diese Botschaften zu Randnotizen machen. Die Welt ist durch die Libyenkrise nicht schlauer, sie ist dümmer geworden. Zumindest scheint das so, wenn man die Fazite der schnöseligen Zeitungsjungs aus den politischen und – noch läppischer – aus den Kulturressorts liest. Und wer am Ende vom Öl, einer strategischen Lage und was sonst noch so alles zu holen ist, profitiert, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allenfalls erahnen.

Aber auch hier gilt sicher die alte Weisheit von einem, der der sich in die düsteren Weltgeschäfte besonders tief verstrickt hat: „In der Politik passiert nichts zufällig.“ erklärte einst Winston Churchill.

JA. ES IST GADDAFI SAGT FACEBOOK

Gaddafi nach Gefangennahme via "Facebook-Gesichtserkennung" von einigen tausend Rebellenhandys einwandfrei identifiziert.

Dienstag, 11. Oktober 2011

Unbedingter Lesetipp: Naomi Klein in DER FREITAG

http://www.freitag.de/politik/1140-hiergeblieben



Verkehrte Ressourcen-Welt

Occupy Wall Street hat das Pozential, die Bewegung zu werden, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird. Auch weil die Umstände andere sind als 1999 in Seattle
Ein Prozent der Bevölkerung liebt die Krise: Das eine Prozent, das den Reichtum kontrolliert. Wenn die Leute in Panik geraten und verzweifelt sind, ist für sie der ideale Zeitpunkt gekommen, um ihre Wunschliste an unternehmensfreundlichen politischen Maßnahmen durchzudrücken: Privatisierung von Bildung und Sozialausgaben, Kahlschlag im öffentlichen Dienst und die Aufhebung der letzten Beschränkungen der Machtbefugnisse der Unternehmen. Dies ist, was vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weltweit vor sich geht.

Es gibt nur eine Sache, die diese Taktik vereiteln kann, und glücklicherweise ist diese Sache sehr groß: Von Madison bis Madrid gehen die übrigen 99% der Bevölkerung auf die Straße und sagen: „Nein. Wir zahlen nicht für eure Krise.“ Dieser Slogan war 2008 in Italien zum ersten Mal zu hören. Er breitete sich nach Griechenland, Frankreich und Irland aus und gelangte schließlich auf jene Meile, auf der die Krise ihren Ausgang genommen hat.

Viele haben Parallelen zwischen Occupy Wall Street und den sogenannten Anti-Globalisierungsprotesten gezogen, die 1999 in Seattle weltweite Aufmerksamkeit erregten. Seither haben wir wir so etwas nicht mehr erlebt: Eine weltweite, von Jugendlichen geführte, dezentralisierte Bewegung nahm die Herrschaft der Unternehmen direkt ins Visier. Ich bin stolz, Teil dessen gewesen zu sein, was wir „Bewegung der Bewegungen“ nannten.

Aber es gibt wichtige Unterschiede. Wir wählten damals Gipfeltreffen als unsere Ziele: die Treffen der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der G8-Staaten. Dies war mit ein Grund dafür, dass wir immer nur für kurze Zeit zusammenkamen. Im Rausch des übersteigerten Patriotismus und der Militarisierung, die auf die Anschläge vom elften September folgten, war es leicht, uns, zumindest in Nordamerika, komplett von der Bildfläche zu verdrängen.

Occupy Wall Street hat demgegenüber ein festes Ziel gewählt und seinem Protest kein zeitliches Ende gesetzt. Das ist klug. Nur wenn man an einer Stelle bleibt, kann man Wurzeln schlagen. Das ist entscheidend. Denn viele Bewegungen sprießen aus dem Boden wie schöne Blumen, sterben dann aber schnell wieder ab, weil sie keine Wurzeln ausgebildet und keine langfristigen Pläne gemacht haben, wie sie sich am Leben erhalten wollen. Wenn dann ein Sturm aufkommt, werden sie hinweggeweht.

Eine basisdemokratische Organisation ist großartig und eignet sich sehr gut für den Aufbau von Strukturen und Institutionen, die robust genug sind, den kommenden Stürmen zu trotzen. Ich habe große Hoffnung, dass dies passieren wird.

Und auch etwas anderes macht diese Bewegung richtig: Ihr habt euch der Gewaltfreiheit verschrieben und euch geweigert, den Medien Bilder von zerbrochenen Scheiben und Straßenschlachten zu liefern, nach denen es sie so sehr verlangt. Dadurch habt ihr es geschafft, dass ein ums andere Mal über die abscheuliche und grundlose Polizeigewalt berichtet wurde.

Der größte Unterschied zu 1999 besteht allerdings darin, dass wir uns damals auf dem Höhepunkt eines hitzigen Wirtschaftsbooms mit dem kapitalistischen System angelegt haben. Die Arbeitslosigkeit war gering, die Aktienbestände prall gefüllt. Die Medien waren besoffen von leicht zu verdienendem Geld. Alles drehte sich um Start-Up-Unternehmen, nicht um Firmenschließungen. Wir wiesen darauf hin, dass die Deregulierung, die der Rausch mit sich brachte, ihren Preis hatte. Sie höhlte die Arbeitnehmerrechte und Umweltschutzbestimmungen aus. Unternehmen wurden mächtiger als Regierungen. Unsere Demokratien nahmen Schaden. Aber während die Wirtschaft brummte, war es sehr schwer, den Leuten zu vermitteln, warum sie gegen ein auf Habgier fußendes System aufbegehren sollten, zumindest in den reichen Ländern des Westens.

Es gibt keine reichen Länder mehr

Zehn Jahre später schient es so, als gebe es gar keine reichen Länder mehr, nur sehr viele reiche Menschen. Menschen, die reich werden, indem sie den gesellschaftlichen Wohlstand plündern und die natürlichen Ressourcen des Globus bis zu deren Erschöpfung ausbeuten. Heute liegt es für jeden offen zutage, dass das System zutiefst ungerecht und außer Kontrolle geraten ist und wir der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen.

Wir überfischen die Ozeane, verschmutzen unser Wasser durch Tiefseebohrungen, bedienen uns der schmutzigsten Energieformen, die es auf dem Planeten gibt, wie den Teersanden in Alberta. Die Atmosphäre kann die Menge an CO2 nicht aufnehmen, die wir ausstoßen. Es kommt zu einer gefährlichen Erwärmung. Die neue Normalität besteht aus einer Abfolge von Katastrophen: wirtschaftlichen und ökologischen.

Diese Tatsachen sind so offensichtlich, dass es heute wesentlich einfacher ist als 1999, mit der Öffentlichkeit in Verbindung zu treten und schnell eine Bewegung aufzubauen.
Wir alle wissen, oder spüren doch zumindest, dass die Welt Kopf steht: Wir verhalten uns, als sei endlos vorhanden, was doch begrenzt ist: fossile Brennstoffe und der Raum in der Atmosphäre, um die bei deren Verbrennung entstehenden Emissionen zu fassen. Gleichzeitig verhalten wir uns so, als gebe es gesetzte und unverrückbare Einschränkungen dessen, wovon in Wahrheit reichlich vorhanden ist: die finanziellen Ressourcen, um die Art von Gesellschaft zu errichten, die wir brauchen.

Heute besteht die Aufgabe darin, diese Verkehrung wieder aufzuheben und die Behauptung, es bestünde ein Mangel an finanziellen Mitteln, in Frage zu stellen. Darauf zu bestehen, dass wir es uns leisten können, eine vernünftige Gesellschaft aufzubauen, die alle mit einschließt und gleichzeitig die wirklichen Grenzen dessen zu respektieren, was die Erde verkraften kann.

Der Klimawandel macht erforderlich, dass uns dies innerhalb einer bestimmten Frist gelingt. Dieses Mal darf unsere Bewegung nicht abgelenkt, geteilt oder hinweggespült werden oder ausbrennen. Dieses Mal müssen wir Erfolg haben. Und ich spreche nicht davon, die Banken zu regulieren und die Steuern für die Reichen zu erhöhen, auch wenn das wichtig ist.

Ich spreche von der Veränderung der Werte, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Diese lässt sich nur schwer in eine einzige, medienkompatible Forderung pressen und es schwer zu sagen, wie man es angehen soll. Doch das ändert nichts an der Dringlichkeit dieser Veränderung. Und das ist, was ich auf diesem Platz sehe.Daran, wie ihr euch gegenseitig mit Essen versorgt, euch gegenseitig warm haltet, Informationen teilt, medizinische Hilfe leistet, Mediationskurse und Empowerment-Training anbietet. Mein Lieblingsschild hier lautet: "I care about you". In einer Kultur, die die Menschen darauf abrichtet, den Blicken der anderen auszuweichen und zu sagen "Lass sie doch verrecken", ist dies ein zutiefst radikales Statement.

Wir haben den Kampf mit den mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräften des Planeten aufgenommen. Das ist beängstigend und wird noch beängstigender werden, je weiter wir wachsen. Seid euch immer der Versuchung bewusst, auf kleinere Ziele abzudriften, wie zum Beispiel auf euren Nebenmann. Wir dürfen dieser Versuchung nicht erliegen und müssen uns im Umgang miteinander darauf einstellen, dass wir für viele Jahre zusammenarbeiten. Denn die Aufgabe, die vor uns liegt, erfordert nichts Geringeres.

Lasst uns diese großartige Bewegung behandeln wie die wichtigste Sache auf der Welt. Denn sie ist es wirklich.

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