Unbedingter Lesetipp: Naomi Klein in DER FREITAG
http://www.freitag.de/politik/1140-hiergeblieben
Verkehrte Ressourcen-Welt
Occupy Wall Street hat das Pozential, die Bewegung zu werden, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird. Auch weil die Umstände andere sind als 1999 in Seattle
Ein Prozent der Bevölkerung liebt die Krise: Das eine Prozent, das den Reichtum kontrolliert. Wenn die Leute in Panik geraten und verzweifelt sind, ist für sie der ideale Zeitpunkt gekommen, um ihre Wunschliste an unternehmensfreundlichen politischen Maßnahmen durchzudrücken: Privatisierung von Bildung und Sozialausgaben, Kahlschlag im öffentlichen Dienst und die Aufhebung der letzten Beschränkungen der Machtbefugnisse der Unternehmen. Dies ist, was vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weltweit vor sich geht.
Es gibt nur eine Sache, die diese Taktik vereiteln kann, und glücklicherweise ist diese Sache sehr groß: Von Madison bis Madrid gehen die übrigen 99% der Bevölkerung auf die Straße und sagen: „Nein. Wir zahlen nicht für eure Krise.“ Dieser Slogan war 2008 in Italien zum ersten Mal zu hören. Er breitete sich nach Griechenland, Frankreich und Irland aus und gelangte schließlich auf jene Meile, auf der die Krise ihren Ausgang genommen hat.
Viele haben Parallelen zwischen Occupy Wall Street und den sogenannten Anti-Globalisierungsprotesten gezogen, die 1999 in Seattle weltweite Aufmerksamkeit erregten. Seither haben wir wir so etwas nicht mehr erlebt: Eine weltweite, von Jugendlichen geführte, dezentralisierte Bewegung nahm die Herrschaft der Unternehmen direkt ins Visier. Ich bin stolz, Teil dessen gewesen zu sein, was wir „Bewegung der Bewegungen“ nannten.
Aber es gibt wichtige Unterschiede. Wir wählten damals Gipfeltreffen als unsere Ziele: die Treffen der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der G8-Staaten. Dies war mit ein Grund dafür, dass wir immer nur für kurze Zeit zusammenkamen. Im Rausch des übersteigerten Patriotismus und der Militarisierung, die auf die Anschläge vom elften September folgten, war es leicht, uns, zumindest in Nordamerika, komplett von der Bildfläche zu verdrängen.
Occupy Wall Street hat demgegenüber ein festes Ziel gewählt und seinem Protest kein zeitliches Ende gesetzt. Das ist klug. Nur wenn man an einer Stelle bleibt, kann man Wurzeln schlagen. Das ist entscheidend. Denn viele Bewegungen sprießen aus dem Boden wie schöne Blumen, sterben dann aber schnell wieder ab, weil sie keine Wurzeln ausgebildet und keine langfristigen Pläne gemacht haben, wie sie sich am Leben erhalten wollen. Wenn dann ein Sturm aufkommt, werden sie hinweggeweht.
Eine basisdemokratische Organisation ist großartig und eignet sich sehr gut für den Aufbau von Strukturen und Institutionen, die robust genug sind, den kommenden Stürmen zu trotzen. Ich habe große Hoffnung, dass dies passieren wird.
Und auch etwas anderes macht diese Bewegung richtig: Ihr habt euch der Gewaltfreiheit verschrieben und euch geweigert, den Medien Bilder von zerbrochenen Scheiben und Straßenschlachten zu liefern, nach denen es sie so sehr verlangt. Dadurch habt ihr es geschafft, dass ein ums andere Mal über die abscheuliche und grundlose Polizeigewalt berichtet wurde.
Der größte Unterschied zu 1999 besteht allerdings darin, dass wir uns damals auf dem Höhepunkt eines hitzigen Wirtschaftsbooms mit dem kapitalistischen System angelegt haben. Die Arbeitslosigkeit war gering, die Aktienbestände prall gefüllt. Die Medien waren besoffen von leicht zu verdienendem Geld. Alles drehte sich um Start-Up-Unternehmen, nicht um Firmenschließungen. Wir wiesen darauf hin, dass die Deregulierung, die der Rausch mit sich brachte, ihren Preis hatte. Sie höhlte die Arbeitnehmerrechte und Umweltschutzbestimmungen aus. Unternehmen wurden mächtiger als Regierungen. Unsere Demokratien nahmen Schaden. Aber während die Wirtschaft brummte, war es sehr schwer, den Leuten zu vermitteln, warum sie gegen ein auf Habgier fußendes System aufbegehren sollten, zumindest in den reichen Ländern des Westens.
Es gibt keine reichen Länder mehr
Zehn Jahre später schient es so, als gebe es gar keine reichen Länder mehr, nur sehr viele reiche Menschen. Menschen, die reich werden, indem sie den gesellschaftlichen Wohlstand plündern und die natürlichen Ressourcen des Globus bis zu deren Erschöpfung ausbeuten. Heute liegt es für jeden offen zutage, dass das System zutiefst ungerecht und außer Kontrolle geraten ist und wir der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen.
Wir überfischen die Ozeane, verschmutzen unser Wasser durch Tiefseebohrungen, bedienen uns der schmutzigsten Energieformen, die es auf dem Planeten gibt, wie den Teersanden in Alberta. Die Atmosphäre kann die Menge an CO2 nicht aufnehmen, die wir ausstoßen. Es kommt zu einer gefährlichen Erwärmung. Die neue Normalität besteht aus einer Abfolge von Katastrophen: wirtschaftlichen und ökologischen.
Diese Tatsachen sind so offensichtlich, dass es heute wesentlich einfacher ist als 1999, mit der Öffentlichkeit in Verbindung zu treten und schnell eine Bewegung aufzubauen.
Wir alle wissen, oder spüren doch zumindest, dass die Welt Kopf steht: Wir verhalten uns, als sei endlos vorhanden, was doch begrenzt ist: fossile Brennstoffe und der Raum in der Atmosphäre, um die bei deren Verbrennung entstehenden Emissionen zu fassen. Gleichzeitig verhalten wir uns so, als gebe es gesetzte und unverrückbare Einschränkungen dessen, wovon in Wahrheit reichlich vorhanden ist: die finanziellen Ressourcen, um die Art von Gesellschaft zu errichten, die wir brauchen.
Heute besteht die Aufgabe darin, diese Verkehrung wieder aufzuheben und die Behauptung, es bestünde ein Mangel an finanziellen Mitteln, in Frage zu stellen. Darauf zu bestehen, dass wir es uns leisten können, eine vernünftige Gesellschaft aufzubauen, die alle mit einschließt und gleichzeitig die wirklichen Grenzen dessen zu respektieren, was die Erde verkraften kann.
Der Klimawandel macht erforderlich, dass uns dies innerhalb einer bestimmten Frist gelingt. Dieses Mal darf unsere Bewegung nicht abgelenkt, geteilt oder hinweggespült werden oder ausbrennen. Dieses Mal müssen wir Erfolg haben. Und ich spreche nicht davon, die Banken zu regulieren und die Steuern für die Reichen zu erhöhen, auch wenn das wichtig ist.
Ich spreche von der Veränderung der Werte, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Diese lässt sich nur schwer in eine einzige, medienkompatible Forderung pressen und es schwer zu sagen, wie man es angehen soll. Doch das ändert nichts an der Dringlichkeit dieser Veränderung. Und das ist, was ich auf diesem Platz sehe.Daran, wie ihr euch gegenseitig mit Essen versorgt, euch gegenseitig warm haltet, Informationen teilt, medizinische Hilfe leistet, Mediationskurse und Empowerment-Training anbietet. Mein Lieblingsschild hier lautet: "I care about you". In einer Kultur, die die Menschen darauf abrichtet, den Blicken der anderen auszuweichen und zu sagen "Lass sie doch verrecken", ist dies ein zutiefst radikales Statement.
Wir haben den Kampf mit den mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräften des Planeten aufgenommen. Das ist beängstigend und wird noch beängstigender werden, je weiter wir wachsen. Seid euch immer der Versuchung bewusst, auf kleinere Ziele abzudriften, wie zum Beispiel auf euren Nebenmann. Wir dürfen dieser Versuchung nicht erliegen und müssen uns im Umgang miteinander darauf einstellen, dass wir für viele Jahre zusammenarbeiten. Denn die Aufgabe, die vor uns liegt, erfordert nichts Geringeres.
Lasst uns diese großartige Bewegung behandeln wie die wichtigste Sache auf der Welt. Denn sie ist es wirklich.
Verkehrte Ressourcen-Welt
Occupy Wall Street hat das Pozential, die Bewegung zu werden, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird. Auch weil die Umstände andere sind als 1999 in Seattle
Ein Prozent der Bevölkerung liebt die Krise: Das eine Prozent, das den Reichtum kontrolliert. Wenn die Leute in Panik geraten und verzweifelt sind, ist für sie der ideale Zeitpunkt gekommen, um ihre Wunschliste an unternehmensfreundlichen politischen Maßnahmen durchzudrücken: Privatisierung von Bildung und Sozialausgaben, Kahlschlag im öffentlichen Dienst und die Aufhebung der letzten Beschränkungen der Machtbefugnisse der Unternehmen. Dies ist, was vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weltweit vor sich geht.
Es gibt nur eine Sache, die diese Taktik vereiteln kann, und glücklicherweise ist diese Sache sehr groß: Von Madison bis Madrid gehen die übrigen 99% der Bevölkerung auf die Straße und sagen: „Nein. Wir zahlen nicht für eure Krise.“ Dieser Slogan war 2008 in Italien zum ersten Mal zu hören. Er breitete sich nach Griechenland, Frankreich und Irland aus und gelangte schließlich auf jene Meile, auf der die Krise ihren Ausgang genommen hat.
Viele haben Parallelen zwischen Occupy Wall Street und den sogenannten Anti-Globalisierungsprotesten gezogen, die 1999 in Seattle weltweite Aufmerksamkeit erregten. Seither haben wir wir so etwas nicht mehr erlebt: Eine weltweite, von Jugendlichen geführte, dezentralisierte Bewegung nahm die Herrschaft der Unternehmen direkt ins Visier. Ich bin stolz, Teil dessen gewesen zu sein, was wir „Bewegung der Bewegungen“ nannten.
Aber es gibt wichtige Unterschiede. Wir wählten damals Gipfeltreffen als unsere Ziele: die Treffen der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der G8-Staaten. Dies war mit ein Grund dafür, dass wir immer nur für kurze Zeit zusammenkamen. Im Rausch des übersteigerten Patriotismus und der Militarisierung, die auf die Anschläge vom elften September folgten, war es leicht, uns, zumindest in Nordamerika, komplett von der Bildfläche zu verdrängen.
Occupy Wall Street hat demgegenüber ein festes Ziel gewählt und seinem Protest kein zeitliches Ende gesetzt. Das ist klug. Nur wenn man an einer Stelle bleibt, kann man Wurzeln schlagen. Das ist entscheidend. Denn viele Bewegungen sprießen aus dem Boden wie schöne Blumen, sterben dann aber schnell wieder ab, weil sie keine Wurzeln ausgebildet und keine langfristigen Pläne gemacht haben, wie sie sich am Leben erhalten wollen. Wenn dann ein Sturm aufkommt, werden sie hinweggeweht.
Eine basisdemokratische Organisation ist großartig und eignet sich sehr gut für den Aufbau von Strukturen und Institutionen, die robust genug sind, den kommenden Stürmen zu trotzen. Ich habe große Hoffnung, dass dies passieren wird.
Und auch etwas anderes macht diese Bewegung richtig: Ihr habt euch der Gewaltfreiheit verschrieben und euch geweigert, den Medien Bilder von zerbrochenen Scheiben und Straßenschlachten zu liefern, nach denen es sie so sehr verlangt. Dadurch habt ihr es geschafft, dass ein ums andere Mal über die abscheuliche und grundlose Polizeigewalt berichtet wurde.
Der größte Unterschied zu 1999 besteht allerdings darin, dass wir uns damals auf dem Höhepunkt eines hitzigen Wirtschaftsbooms mit dem kapitalistischen System angelegt haben. Die Arbeitslosigkeit war gering, die Aktienbestände prall gefüllt. Die Medien waren besoffen von leicht zu verdienendem Geld. Alles drehte sich um Start-Up-Unternehmen, nicht um Firmenschließungen. Wir wiesen darauf hin, dass die Deregulierung, die der Rausch mit sich brachte, ihren Preis hatte. Sie höhlte die Arbeitnehmerrechte und Umweltschutzbestimmungen aus. Unternehmen wurden mächtiger als Regierungen. Unsere Demokratien nahmen Schaden. Aber während die Wirtschaft brummte, war es sehr schwer, den Leuten zu vermitteln, warum sie gegen ein auf Habgier fußendes System aufbegehren sollten, zumindest in den reichen Ländern des Westens.
Es gibt keine reichen Länder mehr
Zehn Jahre später schient es so, als gebe es gar keine reichen Länder mehr, nur sehr viele reiche Menschen. Menschen, die reich werden, indem sie den gesellschaftlichen Wohlstand plündern und die natürlichen Ressourcen des Globus bis zu deren Erschöpfung ausbeuten. Heute liegt es für jeden offen zutage, dass das System zutiefst ungerecht und außer Kontrolle geraten ist und wir der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen.
Wir überfischen die Ozeane, verschmutzen unser Wasser durch Tiefseebohrungen, bedienen uns der schmutzigsten Energieformen, die es auf dem Planeten gibt, wie den Teersanden in Alberta. Die Atmosphäre kann die Menge an CO2 nicht aufnehmen, die wir ausstoßen. Es kommt zu einer gefährlichen Erwärmung. Die neue Normalität besteht aus einer Abfolge von Katastrophen: wirtschaftlichen und ökologischen.
Diese Tatsachen sind so offensichtlich, dass es heute wesentlich einfacher ist als 1999, mit der Öffentlichkeit in Verbindung zu treten und schnell eine Bewegung aufzubauen.
Wir alle wissen, oder spüren doch zumindest, dass die Welt Kopf steht: Wir verhalten uns, als sei endlos vorhanden, was doch begrenzt ist: fossile Brennstoffe und der Raum in der Atmosphäre, um die bei deren Verbrennung entstehenden Emissionen zu fassen. Gleichzeitig verhalten wir uns so, als gebe es gesetzte und unverrückbare Einschränkungen dessen, wovon in Wahrheit reichlich vorhanden ist: die finanziellen Ressourcen, um die Art von Gesellschaft zu errichten, die wir brauchen.
Heute besteht die Aufgabe darin, diese Verkehrung wieder aufzuheben und die Behauptung, es bestünde ein Mangel an finanziellen Mitteln, in Frage zu stellen. Darauf zu bestehen, dass wir es uns leisten können, eine vernünftige Gesellschaft aufzubauen, die alle mit einschließt und gleichzeitig die wirklichen Grenzen dessen zu respektieren, was die Erde verkraften kann.
Der Klimawandel macht erforderlich, dass uns dies innerhalb einer bestimmten Frist gelingt. Dieses Mal darf unsere Bewegung nicht abgelenkt, geteilt oder hinweggespült werden oder ausbrennen. Dieses Mal müssen wir Erfolg haben. Und ich spreche nicht davon, die Banken zu regulieren und die Steuern für die Reichen zu erhöhen, auch wenn das wichtig ist.
Ich spreche von der Veränderung der Werte, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Diese lässt sich nur schwer in eine einzige, medienkompatible Forderung pressen und es schwer zu sagen, wie man es angehen soll. Doch das ändert nichts an der Dringlichkeit dieser Veränderung. Und das ist, was ich auf diesem Platz sehe.Daran, wie ihr euch gegenseitig mit Essen versorgt, euch gegenseitig warm haltet, Informationen teilt, medizinische Hilfe leistet, Mediationskurse und Empowerment-Training anbietet. Mein Lieblingsschild hier lautet: "I care about you". In einer Kultur, die die Menschen darauf abrichtet, den Blicken der anderen auszuweichen und zu sagen "Lass sie doch verrecken", ist dies ein zutiefst radikales Statement.
Wir haben den Kampf mit den mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräften des Planeten aufgenommen. Das ist beängstigend und wird noch beängstigender werden, je weiter wir wachsen. Seid euch immer der Versuchung bewusst, auf kleinere Ziele abzudriften, wie zum Beispiel auf euren Nebenmann. Wir dürfen dieser Versuchung nicht erliegen und müssen uns im Umgang miteinander darauf einstellen, dass wir für viele Jahre zusammenarbeiten. Denn die Aufgabe, die vor uns liegt, erfordert nichts Geringeres.
Lasst uns diese großartige Bewegung behandeln wie die wichtigste Sache auf der Welt. Denn sie ist es wirklich.
Alexander Wallasch - 11. Okt, 09:04