Freitag, 4. Mai 2012

KEIN SCHÖNER TAG ...

Freitag 16:45 Uhr. Endlich Bürofeierabend und Wochenende in Deutschland. Die Sonne scheint. Ja, das Leben ist schön. Sogar schön genug um den Mai zum echten Sommermonat aufzupumpen. Kaiserwetter. Und überall fröhliche junge Gesichter, die über 40 Jährige schon mal wehmütig machen können, wenn man nur genauer hinschaut. Ich schaue. Aber Wehmut ist die Schwester tiefer Freude, die wiederum Jüngeren verschlossen bleibt. Ausgleichende Gerechtigkeit? Ich weiß es nicht.

Aus einer offenen Kneipentür schallt David Guetta über Biergartentische hinweg auf die Straße.

http://www.youtube.com/watch?v=2gBhkJ6lEZA

Stumpfer Asphalt – obenauf ein Mädchen mit Nabelpiercing und kurzen Hosen auf ihrem Hollandrad. Ich fahre freihändig. Wie gut das tut. „Radweg am Fluss“ klingt wie ein englischer Film mit Überlänge. Ist aber nach fünf Minuten schon abgespult und führt auf eine neue Brücke zu. Stolz der Stadt. Freihängend. Betonumrandung. Frische Bepflanzungen und noch unkrautfreie Donauflusskieselwege.


http://www.brueckenweb.de/datenbank/bilder/bilder20/BAS39661_schumann2003-08-28Gesamtansicht.jpg

Dann völlig unvermittelt Geschrei, das so überhaupt nicht ins Bild passt: Die frischen Wohlfühlseifenblasen platzen sofort. Eine Traube Fahrradmenschen versammelt sich. Blickrichtung runter zum Fluss. Die Bauchnabelgepiercte schaut auch. „Du Scheißvotze!“ „Klatsch. Klatsch.“ Eine antwortet aufgebracht von der Brücke runter: „Sofort aufhören!!!“ Wieder von unten hoch in holprigem Deutsch: „Du alte Drecksvotze! Drecksvotze!“ „Klatsch.“ Eine Zuschauerin hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. Zivilcouragierte zücken schon ihre Handytelefone. 110. Die ersten Meldungen werden abgesetzt.

Ich folge den Blicken nach unten und entdecke zuerst das verlassene Tretboot am Ufer. Dann etwas weiter die Böschung hoch ein Frau am Boden. Würgend über ihr der Schreier. Dunkelhaarig. Migrant. Schwarzes T-Shirt. Silberne Schrift vorne. Kettchen. Lochjeans. Schlank. Dunkelhäutig. Und so sehr Klischee, das weitere Klischees erzwungen werden. Ein Maitürke der seine viel jüngere deutsche Freundin in aller Öffentlichkeit verprügelt. Warum auch immer. Und bitteschön, was soll man da noch reininterpretieren?

Nein, der Typ ist offensichtlich trotz Trettbootfahrt bei Kaiserwetter kein verdammter Romantiker. Und die Szene macht ebenso starr wie wütend. Erst das ansteigende Röcheln löst bei den ersten Brückenguckern die Starre und offenbart den Wahrheitsgehalt eines weiteren Klischees: Es sind zwei couragierte Frauen, die zuerst den schmalen Pfad seitlich an der Brücke hinab zum Tatort eilen um sich dem migranten Wüterich entgegenzuwerfen. Das ist dann endlich auch Startschuss für alle. Wir eilen hinterher. Keine Ahnung, was uns bis dahin aufgehalten hat. Wut und Herzklopfen.

Der orientalische Flegel sieht wohl aus dem Augenwinkel was da auf ihn zukommt und lässt endlich ab. Seine Trettbootpartnerin rührt sich nicht. Er baut sich auf. Breitbeinig. Geballte Fäuste. Drohend. Dabei schreit er weiter. Sogar lauter werdend. „Du ALTE VOTZE! Siehst Du?“ Er zeigt dabei auf uns. „Siehst DU ES?“ Kurz bevor „Es“ ankommt, springt er doch noch zurück aufs Boot, das gefährlich schwankt und ein stückweit Richtung Flussmitte treibt. Die Frau setzt sich auf.


http://www.schwaebische.de/cms_media/module_img/1085/542694_1_articleorg_B82881463Z.1_20120413123021_000_GECPR3I7.1_0.jpg

„Polizei ist gerufen!“ ist die erste in beide Richtungen gemeinte Botschaft. Schreihals realisiert, dass sein Opfer in Sicherheit ist und reißt sich immer noch in höchster Erregung und Rage am T-Shirt. Das halbe Dutzend Helfer steht nun etwas verlegen und ratlos um die arme Frau am Boden, die noch ratloser scheint. Dicke Lippe. Geschwollener roter Hals. Panik wechselt in Verzweiflung. „Du ALTE VOTZE!“ Immer wieder hallt es in den verkorksten Maisommerhimmel. Und keiner kann es abstellen.

„Ihr Scheiß Deutschen!“ „IHR SCHEISSDEUTSCHEN!“ Ich schaue in die Gesichter der Helferinnen und ich weiß bis jetzt nicht warum ich es sagte und es klang auch erregter als gewollt und passte sich ein bisschen der Lautstärke des Bootsmannes an: „Ja, wunderbar dieses neue Multikultigefühl, ODER?“ Zwischendurch wieder vom Boot runter: „IHR SCHWEINE DEUTSCHEN!“ Eine schaut mich ganz trocken an und sagt dann mit so weit aufgerissenen Augen: „Das hat mit Multikulti überhaupt nichts zu tun. Das eine MÄNNER-FRAUEN-SACHE MEIN LIEBER!“

„Ich zeig Dich an wegen Volksverhetzung!“ Sie schaut mich erstaunt an. Dann lacht sie befreit hysterisch, zeigt mir den Vogel und fragt schnippisch, was dass denn bitte mit „Volksverhetzung“ zu tun hätte. Ich winke ab und verzichte darauf ihr zu erkläre, dass ich den Migranten und sein „IHR SCHEISSDEUTSCHEN!“ meinte und trolle mich zurück auf die Brücke zum Fahrrad. Mein Herz klopft wie nach einer Schlägerei in der 5.Klasse.

Die Idee allerdings mit der Klage wegen Volksverhetzung lässt mir keine Ruhe. Würde man damit durchkommen? Und würde das nicht ein Zeichen setzen? Aber was wäre das für eines und wem würde es was zeigen? Oder ist es doch nur eine ausgewachsene Blödheitsüberlegung aus der belämmerten Erregung heraus? Die nächste Gelegenheit es zu überprüfen kommt bestimmt. Aber dann hoffentlich nicht an so einem schönen Freitag im Mai, der sich – um noch einen schalen Witz anzuhängen – unvermittelt als ziemlich übler Brückentag entpuppte.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Memory 3.0 - Segen oder Plage ? von RA HEINRICH SCHMITZ

Und zu diesem Thema hier

http://wallasch.twoday.net/stories/enter-in-memoriam/

quasi als direkter Schlagabtausch
ein noch viel weiter geöffnetes, wunderbares Sichtfenster ins facebook, in unser aller Erinnerungen – ins pralle Leben!

von RA Heinrich Schmitz.


Facebooks Chronik speichert alles für immer und ewig, unbegrenzt und ungefiltert. Jedes like, jeder müde Witz, jeder geistreiche Kommentar, jedes Foto - ALLES.

Damit bietet facebook, aber auch andere speicherwütige soziale Netzwerke, einen stetig wachsenden Speicher an Erinnerungen, oder ?

Wie war das noch früher schön, die gute alte Zeit, wo mancher vielleicht Tagebuch führte, aber die breite Mehrheit sich ihre Vergangenheit
zusammenerinnern konnte wie sie wollte. Aus und vorbei.

Die Angler werden es bedauern, dass ihr Fang nicht mit jeder aus der Erinnerung geschöpften Erzählung immer länger wird, weil sie den Fang ja
stolz auf fb im Bild verewigt haben. Dabei haben sie keineswegs gelogen, ebensowenig wie die Jäger mit ihrem Jägerlatein.


http://www.hicker.de/data/media/29/angler-neufundland_5552.jpg

Erinnern ist kein Abrufen von Videoclips auf einer internen Hirnfestplatte, es ist ein aktiver Vorgang. Bei jedem Erinnern schafft unser Gehirn erst eine neue Erinnerung , aus einzelnen Schnipseln, die an unterschiedlichen Stellen des Gehirns abgelegt, mit positiven oder negativen Gefühlen verküpft und alles andere als Fakten sind.

Es fängt schon bei der Wahrnehmung an, die immer subjektiv und stets selektiv ist. Während der eine sich an die schöne Stimme einer Sängerin erinnert, hat der andere nur noch ihren Ausschnitt im Kopf, während der Fan der
siegreichen Mannschaft den Elfmeter für berechtigt hält, erinnert der Fan des Verlierers eine grobe Fehlentscheidung des Schiedsrichters.
Unser Hirn ist kein zuverlässiges Speichermedium.


Es ist immer wieder eine Freude, die Veränderung von Erinnerungen über einen gar nicht mal so langen Zeitraum beobachten zu dürfen. Im
Strafverfahren werden Zeugen meist kurz nach einem Geschehen, dass sie beobachtet haben von der Polizei befragt, etwas später vielleicht
nochmal, dann in der ersten Instanz und vielleicht ein halbes Jahr später in der Berufung.

Es ist absolut irre. Während ein Zeuge zum
Beispiel einen Verdächtigen bei seiner ersten Vernehmung nicht näher beschreiben konnte ( Mann, helle Jacke), meint er ein paar Tage später,
die Jacke habe rote Streifen gehabt und der Mann sehe genauso aus, wie einer, den er einen Tag vorher gesehen hat. Im ersten Termin "erinnert"
er sich dann daran, dass er doch schon bei seiner ersten Vernehmung von den roten Streifen erzählt hat - was natürlich nicht so war. Der lügt
nicht ! Der erinnert sich nur. Manche erinnern sogar Dinge die nie geschehen sind - false memory effect - bei jahrelang zurückliegenden
Sexualstraftaten gerne genommen.


http://www.ag-luedinghausen.nrw.de/service/zeugen/Zeugenvernehmung.jpg


Erzählen langjährige Ehepartner eine gemeinsam erlebte Geschichte, dauert es nur wenige Sätze bis der eine den anderen unterbricht und
vehement darauf hinweist, dass das doch alles ganz anders war.


Wird facebook die Erinnerung verändern ? Verschlechtern oder verbessern? Schwer zu sagen. Natürlich wird es einfacher werden, die Frage zu
beantworten, was haben sie am 3.5.2006 gemacht, wenn man an dem Tag bei facebook etwas hinterlassen hat, aber das könnte ich auch, wenn ich in meinen alten Terminkalender gucke. Bis auf ein paar fb-Junkies wird wohl niemand alles was er an einem Tag getan oder erlebt hat bei facebook verewigen.

Good times eher , bad times eher nicht.
Einzelheiten schon gar nicht. Auf facebook will doch, wie auch sonst in der Öffentlicheit,
keiner schlecht aussehen. Facebook speichert also gar keine Erinnerungen, sondern lediglich postings, also bereits vorsortierte Botschaften an die "Freunde". Klar kann man daran später noch erkennen, womit man sich zu einem Zeitpunkt mal gedanklich beschäftigt hat, viel mehr aber auch nicht.

Ein Tagebuch - sofern man darin ehrlich mit sich
selbst umgeht , und warum sollte man das nicht - hat ein wesentlich höheres Erinnerungspotential.


http://www.design-literatur.de/blog/wp-content/design_tagebuch_21.jpg

Dass die eigenen Erinnerungen sozusagen bei facebook abgeliefert werden, halte ich für unwahrscheinlich. Eventuell kann man sich aber
Erinnerungen besser zurück holen, wenn man in 20 oder 30 Jahren gefragt wird, "wie war das eigentlich damals mit den Piraten, Opa. Warst du
dafür oder dagegen ?" Wenn man sich dann seine eigenen Kommentare noch mal ansieht, kommt der Wahrheit vermutlich näher als der eigene Opa,
der auf die Frage , wie war das eigentlich mit den Nazis, auf Erinnerungslücken verweisen kann. Ob das gut ist, ist eine andere Frage.

Wenn einem die virtuell-reale facebook-Erinnerung nicht mehr gefällt, kann man ja auch problemlos wieder in den biologisch-gnädigen
Erinnerungsmodus umschalten, sich wie Alexander Wallasch bei facebook abmelden und damit alles, was man so von sich gegeben hat, dem Zugriff
der Öffentlichkeit und - noch viel wichtiger - dem eigenen Zugriff entziehen, nach dem adenauerschen Motto: "Was kümmert mich mein
Geschwätz von gestern."

Segen oder Plage ? Hat jeder selbst in der Hand.

von RA Heinrich Schmitz.

ENTER IN MEMORIAM

Kolumne für TheEuropean.de
http://www.theeuropean.de/alexander-wallasch/10949-facebook-und-das-gedaechtnis


http://stadtbibliothekdormagen.files.wordpress.com/2011/06/facebook_findus.jpg

Rene: „Michael hat uns auf Facebook zum Geburtstag eingeladen.“ Alexandra: „Hmm ... gab’s da nicht ein paar lustig kommentierte Fotos vom letzten Jahr? Irgendwo zwischen dieser furchtbaren Libyen-Sache und der überfahrenen Katze? Like es doch erst mal. Zusagen können wir immer noch.“

Erleben, erinnern – vergessen. Verändert Facebook, verändert das Internet jahrhunderte alte Denkmuster? Erleben wir im 21. Jahrhundert eine radikale Veränderung der Erinnerungskultur? Oder doch alles nicht so schlimm?
Kalter Kaffee, heißer gekocht, als getrunken?

Also: Im Jahre 2016 werden voraussichtlich eine Milliarde Menschen bei Facebook angemeldet sein. Jeder Einzelne wechselte dann vom privaten in ein öffentlich gefacebooktes Hier-und-Jetzt. Zu den heute schon über 900 Millionen Facebookern kommen also täglich Tausende hinzu, die ebenfalls ohne erkennbare Not einfach aufgehört haben ihren Alltag mit ihrem individuellen Filter (Gedächtnis) zu verwalten.

Das Gedächtnis, eben jener Ort, der bisher Erlebnisse – mehr oder weniger zuverlässig und bedürfnisorientiert – in zu Vergessenes und Erinnerungswürdiges trennte.

Für bald eine Milliarde Weltbürger gilt also: Ab jetzt wird einfach nur noch abgelegt. Ja, die Speicherkapazität von Facebook und Co ist unendlich. Noch für die kleinste aufgeblasene Banalität steht ausreichend Platz zur Verfügung. Übrigens im selben virtuellen Raum, wo auch die großen Nachrichten ihren Platz finden. Erinnerungsdemokratie. Eine Konkurrenz untereinander entfällt. Relevanzunterscheidungen Fehlanzeige. So wird ausnahmslos jedes Erlebnis hingewürgt, ausgespien und als potentielle Erinnerungskotze gesichert und abgespeichert.


http://www.veeser-dombrowski.de/schule/gehirn01.jpg

Klar, dass das neue Fragen aufwirft. Beispielsweise die, wie man sich jetzt überhaupt noch an bestimmte Fragmente gelebten Lebens erinnern soll. Besitzen wir in lichten Momenten noch die Fähigkeit Erinnerungswürdiges aus dieser monströsen Datenmüllkippe herauszufiltern? Und was ist uns überhaupt noch erinnerungswürdig geblieben? Welche Funktion haben solche gefacebookten Erinnerungen?

Wie war das denn früher, als wir Phasen unseres Lebens dankenswerter Weise dem vorläufigen Vergessen übergeben konnten und auf der anderen Seite die wunderbare Fähigkeit besaßen, weit zurückliegende Wohlfühlmomente jederzeit neu mit Leben zu erfüllen?

Wer noch vor wenigen Monaten (mittlerweile hat Facebook wohl eine archiv-ähnliche Funktion mit einer Chronologie eingesetzt) versuchte, ein – sagen wir mal drei Monate altes – bei Facebook abgelegtes Erlebnis als Erinnerung zurückzuholen, der weiß wovon die Rede ist: Ein „Zurück“-Button-Geklicke stur-chronologisch über alle kommentierten und geliketen Erinnerungen hinweg, dass so verdammt an die Monotonie industrieller Fließbandarbeit erinnerte.

Erinnerungssuche. Ein elender Zeitaufwand, der früher lediglich eine Sekunde des Nachdenkens und der Konzentration verlangte. Mehr nicht. Und ganz gleich, welche noch ausgefeilteren und mit noch höherem Verwaltungsaufwand belegten Facebook-Archiv-Funktionen folgen werden, die emotionale Zuordnung könnte selbst das perfekteste System nicht übernehmen. Und wie auch soll ich mich an etwas erinnern, das ich lediglich virtuell auf dem großen PInnwand-Haufen abgelegt habe?

Die Einführung des Taschenrechners im Schulunterricht belegt längst eindrucksvoll die Abgabe von Gehirnfunktionen und Fähigkeiten. Ebenso das Word-Rechtschreibprogramm oder beispielweise die google-Suchfunktion. Letztere wird übrigens sogar von eisernen Facebook-Verweigerern nicht in Frage gestellt. Da müsste man die Verbindung ins Virtuelle schon endgültig trennen, um dieser Informationskrake zu entkommen.


http://dwb.bbaw.de/art/archiv1.jpg

Also, was erwartet uns irgendwann, wenn wir unsere biologischen Erinnerungsspeicher samt emotionaler Sortieranlage vollständig an Facebook und Co abgegeben haben? Wer kann sich eine Win-Win-Situation vorstellen und wie könnte die aussehen?

Gerade postet Alexandra Fotos vom "ganz netten" Geburtstags-Grillabend bei Michael und bekommt schon nach 15 Minuten 37 Likes. Leider wurde dann eine Katze überfahren und nach 276 Kommentaren geriet der Grillabend in Vergessenheit.

Hier die direkte Antwort von unserem guten RA Heinrich Schmitz! -->
http://wallasch.twoday.net/stories/memory-30-segen-oder-plage-von-ra-heinrich-schmitz/

Dienstag, 24. April 2012

GOODBYE VOLKSWAGEN TRANSPORTER II

Gut, „Odyssee“ ist dann definitiv übertrieben. Denn so ein Gebrauchtwagenkauf kommt ja nicht apokalyptisch über einen. Und es waren auch keine zehn Jahre verzweifelter Suche, sondern lediglich sieben läppische Tage. Aber was in dieser Woche – immer noch getragen vom Verlustschmerz des verstorbenen Volkswagen T4 – über uns kam, war doch deutlich unerwartet.

Nach der Düstererfahrung mit dem nächtlichen Verkauf des T4 war zunächst Erleichterung die bestimmende Emotion. Und ein paar Fahrrad- und Bussrunden später starteten wir frohen Mutes unsere mobile.de, Autoscout24.de und ebay-Kleinanzeigen-Offensive, die am Ende insgesamt ein Dutzend potentielle T5 Kandidaten ausspuckte. Vom T4 zum T5. Klar, man will sich verbessern. Nicht nur für die Nachbarn, sondern vor allem um sich selbst positiv zu programmieren. Es geht doch immer weiter. Und wir werden besser!


Bild aus: http://www.bergedorfer-zeitung.de/multimedia/archive/00976/automarkt_frascatip_976988b.jpg

Was dann aber auf der Stufe zum Besseren hin geboten wurde, war haarsträubend. Die ersten fünf T5-Anbieter waren schon sprachlich kaum zu verstehen. Und sie schienen auch alle auf der Straße zu leben, wie die deutlichen Hintergrundgeräusche unzweifelhaft verrieten. Also erstmal alle Händler-Handy-Nummern gestrichen.

Die nächsten beiden Kandidaten waren die vermeintlichen Top-Angebote. Leider nicht telefonisch erreichbar, also mailten wir ihnen unser Interesse am Schnäppchen-T5. Was dann als Antwort kam, nahmen wir zunächst zum Anlass die Angebote beim Anbieter sperren zu lassen und übergaben es dann der Polizei, die aber lapidar erklärte, das kenne man schon, dass wäre halt so die gängige Masche.

Und die geht so: Die Fahrzeuge stehen laut Mailinhalt in Irland bzw. Griechenland (!). Die Autos würden uns frei Haus geliefert. Allerdings müsse man die Frachtgebühren leider schon vorher überweisen: Dass würde aber vom günstigen Preis später auch noch abgezogen. Hölle! – wer fällt auf so etwas herein?: „You will pay to the company in two deposits,a first payment for they can start and deliver the transport at your address and a second payment in cash at delivery.In case that you don't like the car,the company will transfer the money (first payment) back to your bank account“


Bild aus: http://luftkraft.blogspot.de/2010_09_01_archive.html

So verblieben also noch zwei T5 Kandidaten mit realen deutschen Telefonnummern. Der erste war schon verkauft und der zweite ging nicht ans Telefon. Also probierten wir es später noch einmal. Aber zum Teufel: schon wieder Außengeräusche – und was für welche! So, als stände der T5 mitten in Kabul. Als uns der Angerufene schreiend bittet, doch später anzurufen, er müsse gerade noch „Munition aufladen“, bekamen wir es kurz mit der Angst. Klebt Blut an unserem neuen T5?

Mir kamen diese traumatischen Bilder aus Black Hawk Down in den Sinn. Ridley Scouts Meisterwerk. Blauschwarze Farbige auf rasenden Toyota Pickups hinter provisorisch montierten öligen Maschinengewehren wie später im realen Leben die Aufständischen in Libyen. Fahren moderne Kämpfer etwa neuerdings alle T5? Was ist der Vorteil gegenüber den offenen Toyotas?

Nächster Tag. Nächster Angriff - äh Anruf. Denn sonst war ja keiner mehr auf der Liste, also eh schon alles egal. Und die Sache wendete sich am absoluten Tiefpunkt zum ersten Mal wirklich zum Guten: Wir hatten den deutschen Unteroffizier aus dem Westfälischen gestern telefonisch nur auf dem Truppenübungsplatz erwischt. Und wie das so ist: Wo Erleichterung ins Spiel kommt, keimt sofort Hoffnung. Dieses starke „Alles wird gut“-Gefühl. Sogwirkung.

Weitere Anrufe folgen. Wir schießen uns ein. Mit jeder neuen präzisen Aussage des Soldaten schließen wir mehr Frieden mit dem Kriegsschauplatz Automarkt. Irgendwann sind alle Fronten geklärt und wir machen uns auf den weiten Weg.

Die Landschaft wird immer schöner. Frühling. Lichte Anhöhen. Alte Bäume. Die Häuser aus Naturstein. Zeitlos schön. Ja, mit jedem weiteren Kilometer entfernen wir uns mehr von diesem unsympathischen Autohändler-Deutschland zurück in ein Land der Ehrlichen und Wahrhaftigen – zumindest kam es uns in diesem Moment so vor.
Denn wer lebt in so einer Gegend, schaut auf die blühenden Rapsfelder und bescheißt dann beim Autoverkauf? Unmöglich!


Bild aus: http://kiegelandfoto.com/bilder/heimat.jpg

Das Navi erkennt das Ziel. Ein paar gepflegte Häuser. Vorgärten. Die ersten frischen Geranien. Aber auch dieses liebenswerte ländliche Provisorium. Dinge auf dem Hof, die noch zu schade waren, weggeschmissen zu werden: Alte Türen. Metallrohre, ein Schaufelstil der so lange Jahre gehalten und dann doch irgendwann alterschwach in der schweren Scholle gebrochen ist. Warum wegschmeißen, wenn sich doch noch eine Bohne daran der Sonne entgegen hangeln könnte?

Ja, wir fühlen uns hier beim Bundeswehrsoldaten wie zu Hause angekommen. Thea Dorns „Deutsche Seele“ – beinahe jedes Kapitel könnte hier bewiesen werden. Gut, vielleicht nicht „Freikörperkultur“, aber „Ordnungsliebe“, „Gemütlichkeit“ und „Männerchor“ gewiss.

Nennen wir ihn „Helmut“ steht schon am Tor. Im Flecktarn. Zivil wird erst kurz vor dem Abendbrot angelegt. Nicht sehr groß der Mann, aber einladende Lachfalten um die Augen, Sommersprossen und ein Schimmer Rot im blonden, militärisch frisierten Kurzhaarschnitt. Der Wagen – logisch – frisch von Hand gewaschen. Eimer und Schwamm stehen noch bei. Die Frau werkelt im Hintergrund. Ein kurzer scheuer Gruß und sie meldet sich zum Kaffeekochen ab.

Unser mitgebrachter 'Bruder Autoexperte' kriecht mit dem kleinen Soldaten unter den T5 und jammert eine halbe Stunde lang durch. Das kommt mir auf einmal sehr autohändlermäßig vor, aber gut – ein bisschen Kontrolle scheint der Uffz ok zu finden. Jedenfalls mault er nicht. Und seine Papiere sind auch i.O., wie der Bruder Experte in einer weiteren langen halben Stunde feststellt.

Dann nickt der Checker kurz versteckt: mein Zeichen. Also führe ich die Kaufverhandlungen. Und dieser dolle Westfale zeigt sich dabei von einer bescheidenen – ja doch: ich trau es mich jetzt zu sagen: deutschen – Fairness, die man 2012 schon gar nicht mehr erwartet hätte.

Der Kaffee kommt. Und selbst die Erkenntnis, das es „nur“ Löslicher ist, kann die Stimmung nicht mehr trüben. Die Krönung ist hier das angenehme Gesamterlebnis einer ziemlich unangenehmen Woche des Suchens mit unangenehmen Kontakten zu unangenehmen Menschen. Wir haben unseren T5 gefunden!

Als wir einsteigen, steht der Soldat an der Beifahrertür und kann die Frage nach dem Rückweg nicht mehr beantworten. Er klopft sich verlegen mit zwei Fingern auf den Kehlkopf - das militärische Zeichen für Sprechprobleme. Und dann treten ohne jede Vorwarnung stille Tränen aus seinen Augen. Ich stutze kurz und klopfe ihm dann
verständnisvoll auf die Schulterlitzen.

Der Gute hatte zuvor ohne sichtbare innere Regung erzählt, dass er monatelang in Afghanistan stationiert war und das er dort erst verstanden hätte, was seine Großeltern und Eltern im Krieg wirklich erlebt hätten. Und jetzt weint er zum Abschied um seinen T5 und verfolgt uns noch runter bis zum Gartentor!

Die gute Frau kommt von hinten, winkt uns mit dem einen und legt dabei den anderen Arm um die eheliche Flecktarn-Schulter. „Lieb Vaterland magst ruhig sein, lieb Vaterland magst ruhig sein.“

Ein paar Kilometer weiter blitzen die letzten Sonnenstrahlen über eine alte Mühle hinweg, brechen sich im Seitenfenster und wir schauen. Schauen dann nochmal aufs Fensterglas und nochmal. Und uns sprachlos an, bis wir in ein befreiendes Lachen ausbrechen, das den ganzen weiten Weg nach Hause anhält.

Wir hätten aber auch gut vor Rührung heulen können, denn der Unteroffizier hat mit seinem Finger heimlich einen letzten – bis hierher unsichtbaren – Gruß an die Scheibe seines ehemaligen T5 gemalt. Im Gegenlicht leuchtet ein schiefes zwar, aber unverkennbar ein Herz, wie es sicher noch etliche hier in alte Bäume geritzt zu finden gibt. Aber sicher noch keines an einem silberglänzenden Volkswagen T5.

Mittwoch, 18. April 2012

GOODBYE VOLKSWAGEN TRANSPORTER

Was für ein Dilemma. Nach elf Jahren treuen Diensten hat der Volkswagen Transporter mit langem Radstand seinen Dienst quittiert. Der Kurzaufenthalt in der KFZ-Notaufnahme am Braunschweiger Hauptgüterbahnhof entpuppte sich nach einem traurigen Telefonat als Endstation Automobilhospiz. Unser dunkelroter Urlaubsbegleiter, Baumarkt-Kumpel, unser Familien-Markenzeichen liegt im Sterben, teilte der freundliche, aber ebenso hilflose KFZ-Werkstättler mit.

Er könne gerne noch auf seinem Hof stehen bleiben, die Stilllegung stände ja sowieso unmittelbar bevor, erklärte er noch empathisch. Ich schaue Frau an, Frau schaut mich an. Hätten wir ihn besser pflegen müssen? Haben wir ihn hingerichtet, vernichtet, getötet? Oder sind 17 Jahre doch ein gutes Alter? Ist 17 Jahre für einen Volkswagen Bus so wie 90 Jahre für ein Menschen oder doch viel weniger? Dagegen spricht: ab 30 Jahren gilt ein Automobil als Oldtimer. Wir haben unseren vierrädrigen Freund also in seinen besten Jahren aufgegeben. Die Kinder sind mit ihm groß geworden. Ja, selbst auf Google-Earth steht er wie ein treuer Hund vor unserem bescheidenen Heim.



Wie oft bekommt google-earth eigentlich ein update? Das kann keiner so genau sagen. Schmerzliche Jahre der Erinnerung stehen uns also bevor. Und sich so einfach auf die Schnelle mit einem Neuling trösten ist unsere Sache nicht. Aber wir müssen ja fahren. Irgendwo hinfahren. Immer weiter fahren. Klar, wir können es hinausschieben und noch eine Weile zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren. Aber wir können den Neuanfang nicht vermeiden. Also gehe ich auf mobile.de und schreibe die Todesanzeige. Und ich bin sogar so pietätslos, noch Kapitel aus seinem bitteren Ende zu schlagen. Die Scham ist dafür wohl doch nicht groß genug.

Als ich vom Leichenschmaus ermattet vom Computer aufstehe, klingelt bereits das Telefon. Und es wird nicht kondoliert, es wird erbittert gefeilscht. Und das bleibt auch die nächsten Stunden so. Die Leichenschänder riechen das Schnäppchen. Einer ist besonders aufdringlich und möchte jetzt gleich aus Hamburg kommen. Die deutsche Stimme erklärt, er würde unseren Kumpel nach Afrika verschiffen. Der Zustand wäre ihm völlig egal, die Afrikaner würden sich die Fahrzeuge selbst zurecht machen. Oder ob ich lieber noch die einhundert weiteren Anrufe der türkischstämmigen Kollegen abwarten will. Die würden nämlich „auf sicher“ noch kommen. Das überzeugt mich nicht, aber die Aussicht eines Gnadenbrots für unseren Langen in Afrika – also irgendwie sogar so etwas wie ein Charity-Gedanke – hat Überzeugungspotential.

Frau warnt noch: „Muss das denn wirklich so auf die Schnelle sein? Und noch dazu fast in der Nacht?“ Aber der Hamburger hat sich schon auf den Weg gemacht und ich telefoniere noch mit der Werkstatt am Hauptgüterbahnhof. Der Meister dort ist so freundlich und fährt unser Baby ganz vorsichtig vor die Tür, er hätte ja nun Feierabend und könne nicht warten. Der Schlüssel läge auf dem Vordereifen und die Papiere im Handschuhfach.

Hamburg ruft von der Autobahn an. Im Halbstundentakt. Ich lass mich von meiner alten Mutter vor die Werkstatt fahren. Es ist 22 Uhr – die Nacht beginnt in Braunschweig und noch mehr hinterm Lidl Helmstedter Straße. Die Zeit der Dunkelheit. Wir warten unter der einzigen Straßenlaterne. Mutter und ich. Wie früher. Aber wir nehmen uns trotzdem nicht an die Hand. Autos fahren schnell an uns vorbei. Manche immer wieder. Irgendwo am Ende des Weges muss es ein Privatetablissement geben. Oder einen gut frequentierten Drogenumschlagplatz. LKW’s pausieren mit zugezogenem Fahrerhaus. Durch fahlbeleuchtete Fabrikfenster sieht man Pappkartons monoton über blaue Fließbänder rollen. Hier ist es spürbar kälter, als in den heller beleuchteten Ecken der Stadt. Logisch ist das allerdings nicht zu erklären. Es muss also auch etwas mit einer inneren Kälte zu tun haben.

Dann biegt endlich ein Wagen mit HH um die Ecke. Die Hansestädter sind endlich angekommen. Und der, der vorher perfekt deutsch telefonierte, spricht plötzlich mit osteuropäischem Dialekt. Man kommt zu zweit, logisch, einer muss ja nachher mit dem HH-Automobil – ein schäbiger Opel Corsa in Silber – wieder zurückfahren, während der andere unseren roten Liebling besteigt. Grob fassen sie ihn an, reißen an seinen Innereien. Autosklavenmarkt! Dort wäre dies und dort das nicht in Ordnung. Beide reden wild durcheinander, einer gibt Vollgas aus dem Stand, der andere fummelt am Vergaser. Mutter bekommt Angst, die polnischen Gesichter werfen lange Schatten.

Mutter wird es zu viel. Sie flüchtet in ihren Smart und verriegelt die Türen, als ich in den Corsa steige um den Papierkram zu erledigen. Beifahrerplatz. Der Fahrer schreibt die Daten aus dem KFZ-Brief in irgendeinen ominösen selbstgemachten Kaufvertrag. Sein Kollege sichert breitbeinig die offene Beifahrertür. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, auch nicht, als die vereinbarte Verkaufssumme überraschenderweise wieder vakant wird. Dann ein spitzer Schrei aus dem Smart. Später erzählt die Mutter, sie hätte gedacht, der eine Bursche hole einen Knüppel aus dem Kofferraum um mich zu erschlagen, aber es waren dann doch nur die roten Kennzeichen für die Überführung.

Nach endlosen Minuten bezahlen die beiden die verminderte Summe mit einem Haufen gebügelter Zehneuroscheine. Aber mir ist schon alles egal. Ich zähle auch nicht mehr nach. Hier und heute an diesem Ort hätte ich auch Monopoly-Geld genommen. Hauptsache weg. Der mit dem vermeintlichen Knüppel geht nochmal rüber zum Smart um sich zu verabschieden. Aber Mutter lässt die Tür verschlossen und starrt eisern aufs Lenkrad. Auch noch als er klopft und dann zu seinem Kumpel rüberlacht. Ich dränge ihn ab und als er grinsend zum Transporter rübergegangen ist, findet Mutter den Sicherheitsabstand endlich ausreichend mir die Beifahrertür zu öffnen und rast in einem Affenzahn hinüber ins Licht der Stadt, als wäre ihr kleiner Smart kein Smart, sondern ein sprintiger Porsche.

Hoppsa Hopps, die Bordsteinkante muss dran glauben, ebenso das kleine Rasenstück. Nun kann ich mir das Lachen kaum noch verkneifen. Unendliche Erleichterung. Aber Mutter findet das alles überhaupt nicht so lustig. „Heute Abend verriegle und verrammle ich die ganze Wohnung!“ erklärt sie schrill, aber auch ein bisschen um ihre chaotische Fahrweise zu überspielen. Ich bin mir dabei ziemlich sicher, dass sie mich so bald nicht mehr auf eine Autobeerdigung begleiten wird. Sie lehnt dann sogar brüskiert die 50 Euro ab, die ich ihr aus Dankbarkeit und für Sprit etc. in fünf Zehneuroscheinen direkt vom Stapel in die zittrige Hand drücken will.

„Von dem Geld nehme ich nichts!“ erklärt sie aufs äußerste empört und tritt dann erschrocken auf die Bremse, als sich mein vertrauter Volkswagen-Kumpel mit einem winkenden Fahrer hinterm Steuer an uns vorbeidrückt und in eine ungewisse Zukunft fährt. Mit Genugtuung registriere ich das so vertraute Bocken, als der böse Hamburger hochschalten will. Goodbye Volkswagen Transporter, ich wünsche Dir sonnige Zeiten. Und: I bless the rain's down in A-a-frica!

Samstag, 14. April 2012

AM ENDE DER ROTEN FAHNENSTANGE – LINKS, ZWO, DREI, VIER ...

Der Artikel im SUBWAY:
http://www.subway.de/aktuell/shortnews/artikel/subway-kolumnist-a-wallasch-ueber-die-lage-der-braunschweiger-linkspartei-am-ende-der-roten-fahnenstange-14431.html


Die Linke hat Probleme. Unlösbare? Ich glaube ja. Und das hat überhaupt nichts mit dem aktuellen Abgang von Gesine Lötzsch zu tun, sondern viel mehr mit der Parteibasis. Mit der in den alten Bundesländern sogar noch mehr, als mit der in Mitteldeutschland. Für ein Selbsterlebnis lohnt ein Besuch bei den Linken in der West-Provinz. Buxtehude, Bielefeld, Braunschweig.


Auf dem Braunschweiger Kohlmarkt – Gleich kommt Gregor!

Die Braunschweiger Linkspartei zählt um die einhundert Mitglieder. Aktiv sind davon ca. 15-20 Mitglieder. Für die verbleibenden ist Basisarbeit keine Option. Ein Verhältnis, das bei den etablierten Mitbewerbern nicht viel anders ist, aber für die Linke gilt – schon allein der Anzahl wegen – noch einmal mehr, was zum großen Erfolgsrezept der Piraten wurde: Aktionismus, öffentliche Präsenz, „draußen Meinung machen“.

Der große Vorteil der Piraten: Themen werden automatisch über das Internet generiert. Und vor allem: Die größere Gruppe der Unterstützer und Sympathisanten besteht nicht einmal aus Parteimitgliedern. Die Linken müssen ihre Stimmungsmacher aus den eigenen Reihen requirieren. Das ist mühsam. Noch mühsamer in einer 250 Tsd. Einwohner Stadt bei 100 Mitgliedern von denen eh nur 20 aktiv sind und die zudem eh an Überalterung leiden.

Mein Nachbar ist – ich glaube das war 2007 – im Zuge der Euphorie rund um die Fusion von PDS und WASG in die neue Linkspartei eingetreten. Da hatte er noch keine Arbeit. Und im Vergleich zu den anderen Arbeitslosen hier im Viertel sah man den jungen Burschen plötzlich tatsächlich und regelmäßig Samstagsmorgens ohne Not um 8 Uhr mit Thermosflasche in den Bus Richtung Innenstadt zum Stand der Partei fahren.

Der Eindruck hätte damals sein können: Ein Arbeitsloser, der nicht frustiert und desillusioniert auf sein Hartz4 wartet, sondern auch politisch an seiner Situation arbeitet. Ob die Ursache für seine Misere nun im bösen kapitalistischen System zu finden war, sei mal dahin gestellt, aber der Kerl tat was. Mühelos reihte er sich in die – nennen wir sie mal – Altkader ein und trug sogar die knallrote Signalweste oder ließ sich vor Wahlen beim endlosen Verteilen von Rotpapieren – so viele Verteiler stehen ja nicht zur Verfügung, da bekommt jeder Willige ein besonders großes Areal zugeteilt – sogar von der Nachbarschaft belächeln und beschimpfen.

Ja, ich hatte großen Respekt vor diesem Nachbarn., Das hat mir wirklich imponiert, wie der in der Parteiarbeit aufging. Das hatte wirklich etwas Überzeugendes. Und die Sache wirkte ja auch! Diese Selbstdisziplinierung übertrug sich irgendwann auf seine Gesamterscheinung. Und wie es dann zustande gekommen war – ich weiß es nicht, jedenfalls hatte er irgendwann einen festen Job. Es gab selbstverdientes Geld, regelmäßige Arbeitszeiten und an einem sonnigen Tag erzählte er mir stolz, dass er nun auf seiner Arbeit so etwas wie eine
Schichtleiterfunktion bekommen hatte. Eine Vertrauensstellung!

Als ich ihn allerdings fragte, wie es denn mit der Parteiarbeit aussehen würde, zuckte er nur mit den Schultern und erklärte, „Ach die, das bringt doch alles nichts.“

Einer weniger von 100. Und kein Einzelfall. Sinkt die Mitgliederzahl im PDS-Stammland „Neue Bundesländer“ hauptsächlich durch Sterbefälle/Überalterung , sieht es im WASG Land (wer kannte die Jungs um Klaus Ernst eigentlich vor der Vereinigung der beiden Parteien?) düsterer aus.
Der Spiegel berichtete, das im Westen Austritte und Parteiwechsel verantwortlich sind. Gysi klagte, der Zustrom aus der SPD und den Gewerkschaften – wohl lange Zeit eine zuverlässige Auffrischung – sei sogar völlig zum Erliegen gekommen.

Und wer sich mal die Mühe macht an seinem Standort die Basis der Partei Die Linke anzuschauen, der hat den Grund auch schnell herausgefunden. Die Vitalisierungsrichtung – dieses von unten nach oben delegieren – stimmt nicht mehr. Hat eigentlich nie gestimmt. Da ist es fast ein bisschen so, wie mit dem Golfstrom in der Klimakatastrophe: Alle warten nur noch paralysiert auf den kritischen Punkt, der alles zusammenbrechen lässt. Aus die rote Maus.

Dabei sind die alten Hasen an der linken Westfront gar nicht so inaktiv. Das sind ja nicht alle, wie mein junger Nachbar Leute, die neu in Anstellung sind und deshalb keine Notwendigkeit an der politischen Arbeit mehr sehen, Die „Opfer des Systems“, die Hartz4ler sind immer noch da. Und immer noch wütend. Und die politischen Rentner haben ja auch alle Zeit der Welt und sind so wenig Musikantenstadl wie nie zuvor. Warum also überlässt man die Wut den Wutbürgern, den Parteilosen und Piraten?

Ja doch, das wirkt immer sympathischer, wenn man Wut den jüngeren Freibeutern überlässt. Wer erinnert sich nicht an die Fernsehbilder wütender Alter, die Bäume umringen und Bahnhöfe umstellen, mit einer irgendwie fast peinlichen Energie, als wären sie tatsächlich Unsterbliche und sahen doch so altbacken aus. Auf mich wirkte das immer wie ein Raubzug am Leben. Wie so ein oller Wunsch, noch über den Tod hinaus – wenn nicht die ganze Welt, dann doch wenigstens die kleine Welt um einen herum nachhaltig verändern zu wollen. Ach Quatsch – verändern zu müssen! . Wie eine innere Zwangshandlung. Für andere. Für Jüngere. Und so besserwisserisch und unangenehm anzusehen.

Dahinter immer der unappetitlich vergreiste Gestus der 68er. Und es war ja zu allen Zeiten so: Ehrlich ist die Jugend, denn sie tut es für sich selbst. Für ihre eigene Zukunft. Es stimmt: Wer in der Jugend nicht Kommunist war, der ist später kein guter Demokrat – Wer hat's gesagt? Matussek? Ich hab's vergessen.

Aber es stimmt ja. So sitzen dann also die Rentner der Partei im grellen Sonnenlicht zwischen den jungen Partypiraten die noch alle Zukunft vor sich haben: Die großen orangenen Fahnen wehen vor dem Schloss. Elektro-Musik schallt aus Lautsprecherwagen. Das ist kraftvoll. Das ist geil. Das macht Spaß und ist doch politischer als nur Spaßpolitik. Und da fallen Oma und Opa von gestern nicht einmal mehr auf. Aber das ist es eben auch: Sie fallen nicht einmal mehr auf.

Also auch aus der politischen Wahrnehmung. In der großen neuen Wirklichkeit, dem Internet ist das alles noch viel schlimmer vollzogen. Da sind die Linken keine Natives. Da fallen die wenigen Verbliebenen auf, weil sie die neue Sprache noch weniger gut sprechen als sie vor dem Schloss irritiert schweigen. Eine einzige große Unsicherheit. Ihre Beiträge sind dann entweder zu laut, zu leise und am Ende melden sie sich gar nicht mehr zu Wort. Das Internet ist alles andere als Links.

Und seit Facebook dort das Regiment über 850 Millionen User übernommen hat, ist da Internet in Privatbesitz übergegangen. In den Privatbesitz weniger Menschen. Der Internet-Imperialismus ist abgeschlossener, als es der Weltliche jemals war. Und das in einer Machtfülle, die sich für das reale Leben niemand hätte vorstellen können. Und so wird dann auch das Schicksal der Piraten zyklisch zu Ende gehen. Aber nicht gleich. Nicht heute. Sondern viel viel später. Dann, wenn die alten Linken längst Geschichte sind. Oder nicht einmal mehr das, sondern einfach Vergessene.


Da staunt der Braunschweiger, was der Gregor alles an neuen Ideen mitgebracht hat.

Die Jungs und Mädels mit der Augenklappe werden vor ihrem eigenen Ende noch viele Kreisverbände der Linken zu Grabe tragen. Dieser Schmelztiegel des linken Gewissens von 2007 ist schnell gestorben. Weil von Anfang an der Wille zum Überleben fehlte. Man hing am Tropf von Gysi und Lafontaine. Und die beiden wussten das genau. Das hat ihre alten Gesichter in stillen Momenten auch immer verzweifelter gemacht.

Was waren das für denkwürdige Zusammentreffen, wenn die beiden alten Konvertiten aus den ganz großen Parteien (SPD/ SED) in Braunschweig aufmarschierten. Immer extra ein bisschen zu spät. Immer in großen Limousinen. Immer mit Schutzmännern. Immer sehnlicher erwartet von den tapferen einhundert rotgeschmückten Rotgardisten und ein paar zufälligen Passanten. Und da versammelte sich dann die Schar der Energielosen aufflackernd im Sonnenschein der Bundesvorsitzenden. Was für ein Erlebnis. Aber der Wachzustand der Erweckung blieb folgenlos.

Die Energie der einhundert Alten war in 40 Jahren BRD-Grabenkämpfen am selben Platz verpufft. Wer heute älter als 40 ist erinnert sich noch gut an die jungen hageren Studentenburschen, die sich Samstag für Samstag vor ihren Büchertischen vom satten Rest der Wirtschaftswunderdeutschen beschimpfen lassen mussten. Ja! Das sind hier im Westen die Rentner von heute in den roten Signalwesten, die hochschauen zum Anwalt aus dem fernen Osten und dem Konvertiten aus der SPD-Führung.

Joschka Fischer war nie in Braunschweig. Sein linker Büchertisch vor Opel stand auch nicht lange. Das war ihm richtig peinlich damals. Eine Weile später gab er ein bisschen damit an. Heute nicht mehr. Aber Fischer hatte die Kraft, die grünen Piraten von damals zu penetrieren und ist dann erfolgreicher gewesen als jeder andere Büchertischler der alten Bundesrepublik. Ja, er war jung! Und schlank.

Das sind seine Ex-Genossen, die sich mit der PDS vereint haben beides längst nicht mehr. Und sie sind nie bis nach Berlin gekommen. Nicht einmal über Ihren 50 Jahre alten Büchertisch hinweg. Und deshalb werden sie auch in Braunschweig beerdigt. Wie die Büchertischler im Rest der Republik. Jeder für sich. Das Ende der roten Fahnenstange. Still und leise. Und leider auch schon bald.

Und zum nostalgischen Nachlesen noch ein Bericht aus der Provinz (damals noch mit positiverer Prognose nach hinten raus):
http://www.prager-fruehling-magazin.de/article/327.an-der-basis-gibt-8217-s-hausgemachtes.html

Freitag, 13. April 2012

RA HEINRICH SCHMITZ – PsychKG 2.0 - Der Wahnsinn sitzt

Und wieder eine interessante und ebenso brisante Überlegung unseres lieben RA Schmitz !!! – diesmal zu einem gutgemeinten, aber wohl doch nicht so gut gelungenen neuen Erlass (sagt man "Erlass"?) der "Freunde der deutschen Psychiatrie" in NRW.

Ich musste dabei übrigens sofort an einen wundervollen Film denken – nein, nicht "Einer flog übers ..." sondern "Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen" der mich in den 1980ern? mal sehr berührt hatte.

Danke Heinrich!





PsychKG 2.0 - Der Wahnsinn sitzt
von RA HEINRICH SCHMITZ

"Wir sitzen fest ! Wir werden verrückt !" Nein, diesmal sind es nicht nur die Patienten geschützter psychiatrischer Abteilungen,die schreien. Es sind die Pflegekräfte, die schon im April 2012 mit ihren Nerven am Ende sind.

Grund für den Aufschrei und die Hilfsanfragen vieler Pflegekräfte in der Psychiatrie ist eine ganz tolle "Verbesserung" des PsychKG in NRW.

Im November beschloss der NRW-Landtag mit der Mehrheit von SPD, Grünen, FDP und Linkspartei eine Änderung des PsychKG, die die böse,
menschenfeindliche BigBrother-Technologie der Videoüberwachung von fixierten Patienten gesetzlich verbot. Kamera aus, Feierabend, keine
Ausnahmen. Seitdem sitzt in einer geschlossenen Psychiatrie nicht nur der Patient fest, sondern auch das Pflegepersonal.

Die nach PsychKG in NRW untergebrachten Patienten sind nicht freiwillig und normalerweise nicht gerne dort. Das Gesetz dient dem Schutz des
Patienten oder anderer Menschen. Dazu ist es leider manchmal nicht zu vermeiden, einen Patienten zu fixieren, d.h. im Klartext ihm ans Bett zu fesseln. Fieses Gefühl, wie wohl jeder nachvollziehen kann. Das kann unter bestimmten Voraussetzungen vom Arzt angeordnet werden.

Bis zu dem grandiosen Kameraverbot konnten die Patienten in dieser für sie misslichen Situation mittels Videoüberwachung beobachtet werden.
Alle 15 Minuten musste jemand vom Personal im Raum nachsehen, ob der Patient o.k. war oder einen anderen Wunsch hatte, als den endlich
losgemacht zu werden.

Das fanden dann die Politiker, die in ihrer Mehrzahl vermutlich noch nie in einer Psychiatrie gearbeitet haben oder dort fixiert wurden, ganz
schlimm. Einer von ihnen, der FDP Mann Stefan Romberg, selbst Psychiater in Hamm, sah in den Patientenzimmern "Schutzräume , in denen
Videokameras nichts zu suchen hätten." Das klang ja alles so menschlich, so gut, so sozial, so freiheitlich, so links , so grün. Nur die CDU
wollte die Art der Überwachung den Ärzten überlassen, aber die hatten ja in NRW nix zu melden.

Also wurde reformiert, menschlich gemacht, verbessert was das Zeug hält. Der fixierte Patient wurde befreit ! Zwar nich von seinen Fesseln, aber immerhin von einer kleinen Cam an der Decke.


http://img.fotocommunity.com/images/Architektur/Marodes/ich-hab-dir-nie-einen-Rosengarten-versprochen-a27201687.jpg

Seit Dezember 2011 muss nun neben jedem fixierten Patienten eine sogenannte Sitzwache daneben sitzen. Das ist zwar oft vom Patienten absolut unerwünscht, weil er sich von diesem fremden Menschen belästigt und beobachtet fühlt, häufig sogar die Pflegeperson in sein akutes Wahnsystem integriert und durch den ständig neben ihm sitzenden Menschen große Angst entwickelt und daher nicht zur Ruhe kommt. Irgendwie blöd. Dumm gelaufen. Die alte Kameraüberwachung hatte er meistens schnell vergessen, der Sitzpfleger ist kaum zu übersehen.

Patienten, sie stark alkoholisiert sind, vielleicht noch zusätzlich ein paar Drogen konsumiert haben und fremdaggressiv sind, sehen das Pflegepersonal als Feind an, nicht als Hilfe. Sie brüllen, bedrohen, beschimpfen, bespucken und beleidigen die Sitzwache auf das Übelste.Sie
können ja sonst auch nicht viel machen mit ihren Gurten. Und es ist ja auch ihr gutes Recht sich auszutoben, sonst wären sie ja nicht in der
geschlossenen Abteilung. Es kommt schonmal zu Morddrohungen und nicht selten wird die Sitzwache noch mit der Urinflasche beworfen. Mit irgendwas muss der Patient sich ja abreagieren. Vorsicht bei der Berufswahl kann man da nur sagen. Das hatte der gute Herr Romberg und die menschenfreundlichen Landtagsabgeordneten wohl nicht einkalkuliert, bei ihrem Freiheitsbekenntnis.

Naja, Herr Romberg ist ja auch Arzt und
keine Pflegekraft. Dem kann's ja eigentlich egal sein. Der Arzt ordnet die Fixierung ja nur an, er musss sich ja nicht stundenlang neben den
Patienten setzen.

Aber die Pflegerin oder der Pfleger muss das alles heroisch über sich ergehen lassen und brav sitzen bleiben, man ist ja schliesslich
Profisitzer, hat Nerven aus Stahl, was soll's. Steht ja so - ohne Ausnahme - im Gesetz.

Bei suizidalen Patienten war es auch vorher schon sowieso durch permante Kontrollen gewährleistet, dass ihnen nichts Schlimmeres geschieht, da
war und ist das Personal ohnehin immer extrem wachsam.

Bei persönlichkeitsgestörten Patienten aber, die verstärkt Aufmerksamkeit wünschen und fordern, ist das menschliche Rumsitzen
leider ziemlich kontraproduktiv, da die Sitzwache zuverlässig verhindert, dass der Patient zur Ruhe kommen kann.



Die Gesetzesänderung wird nicht nur von gestressten Pflegekräften als absolutes Reformdesaster angesehen- sie tut den Patienten nicht gut und dem Personal auch nicht.

Und überhaupt: Wo soll man das für eine dauerhafte Sitzwache erforderliche professionelle Pflegepersonal denn so her nehmen? Es wird
gleichzeitig genau an diesem gespart, der Stellenschlüssel wurde nicht erhöht, ist zu teuer. Vor ein paar Tagen habe ich mit eigenen Augen eine kreative Lösung gesehen. Gleich 4 fixierte Patienten lagen in einem Raum
und brüllten auf einen Pfleger ein, der an diesem Tag das große Sitzwachenlos gezogen hatte. Für die Patienten und den Pfleger die reine
Freude. Ein vertrauliches Gespräch mit "meinem" fixierten Mandanten war kaum möglich. Ins Ohr wollte ich ihm nicht flüstern, er hätte mich
beißen können.

Und die anderen, nicht fixierten Patienten kommen zwangsläufig zu kurz. Für sie fehlt es folgerichtig an Ansprechpartnern. Vielleicht sollten sie einfach was randalieren, damit sich jemand zu ihnen setzt. Ein ganz tolle Verbesserung dieses schöne neue Gesetz.

Das eingesetzte Pflegepersonal ist schon nach zwei Stunden Sitzwache bei einem tobenden Patienten arg strapaziert, ist völlig groggy und
gestresst und will nur noch weg. Nachvollziehbar, oder ? Das hält kein Mensch lange aus. Und auch Pflegekräfte sind Menschen, keine Übermenschen.

Kein Wunder, dass immer weniger Leute diesen für die Gesellschaft wichtigen Beruf ergreifen wollen. Da wäre man ja völlig bekloppt, sich
so was freiwillig anzutun. Keiner setzt sich ins Kuckucksnest.

Super gemacht liebe Landesregierung, das nennt man einen Bärendienst. Da könnte man ja nach der Wahl im Mai mal drüber nachdenken.

Aber es war ja so gut gemeint und so schlecht gemacht.

Von RA HEINRICH SCHMITZ

Donnerstag, 12. April 2012

MATTHIAS MATUSSEK im INTERVIEW

http://www.subway.de/aktuell/shortnews/artikel/matthias-matussek-im-interview-tschuess-sie-alter-gauner-14416.html
matussek-Wallasch-

„TSCHÜSS, SIE ALTER GAUNER.“
Der heilige Zorn des Matthias Matussek


Anne Will fragte unlängst: „Hat die Kirche noch Antworten?“ Und wetten, dass Matthias Matussek, Deutschlands Vorzeigekatholik Nr.1, auf der Einladungsliste stand? Wette gewonnen.
Ein wenig abgeschmackt allerdings die tagesaktuelle Relevanz des Themas: Seehofer und Wulff hatten sich zur inneren Reinigung auf Zeit in Klöster verabschiedet. Und warum Matussek bei Anne Will saß, erklärt nicht nur sein aktuelles Buch „Das katholische Abenteuer“, sondern schon nach 15 Minuten auf Sendung seine erste von weiteren Verbalexplosionen, als er die Populärpsychologin Angelika Kallwass aufgebracht fragt, ob sie denn „irre“ sei, Hitler und Gott in einem Atemzug zu nennen.

Warum tut sich das jemand an, der schon fast alles erreicht hat, was ein Journalist in Deutschland erreichen kann? Was treibt erfolgsverwöhnte Männer um, in ihrer zweiten Lebenshälfte so zornig zu werden, wie unlängst – noch um ein Vielfaches medienwirksamer – Nobelpreisträger Günter Grass?

Moment, Grass ist eine ganz andere Sache, Grass war ja nicht zornig, sondern berechnend, und zwar berechnend antisemitisch, so berechnend wie Ahmadinedschad, der ihn wahrscheinlich demnächst ehrenhalber einbürgern wird. Nö, mir ist schlicht wegen Heiner Geissler der Kragen geplatzt bei Anne Will.

Die ehemalige DDR 1989/90 zur "Stunde Null" („Palasthotel“), vernachlässigte Väter im deutschen Geschlechterkampf („Die vaterlose Gesellschaft“), eine Liebeserklärung an Deutschland („Wir Deutschen“) und im vergangenen Jahr dann eine solche an den katholischen Glauben („Das katholische Abenteuer“) – Himmel noch einmal, geht's nicht mal etwas ruhiger, müssen es immer die ganz großen Themen sein – gar keine Sehnsucht nach der „Geliebten zwischen Strand und Dschungel“, Ihre wunderbare Brasilien-Liebeserklärung?

Doch, große Sehnsucht nach Rio, immer wieder. Aber ich mische mich gerne ein, das ist doch der Motor für jeden Journalisten. Oder sollte es sein. Und ich habe Grundüberzeugungen, für die ich mich gerne ins Getümmel werfe. Karrierefördernd ist das nicht. Karrierefördernd ist Überzeugungslosigkeit.

Was erfordert in Deutschland mehr Mut, ein Bekenntnis zum Vaterland oder eines zum katholischen Glauben?

Das ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen ins gesellschaftliche Abseits, würde ich sagen. Beide Themen sind „pfui“ in unserer dauerironischen Abgeklärtheit. Allerdings liegt das Glaubensbekenntnis dann doch vorne, das ist absolut uncool.

Anne Will und Matthias Matussek – fast schon eine Zweckgemeinschaft? Was macht die Win-win-Situation aus?

Ich mag Anne Will. Ich fand es schade, dass sie ihren Sonntagsplatz räumen musste. Aber ihre jetzige Sendung hat auch sehr gute Quoten. Was sie an mir schätzt? Mein Aussehen, ist doch klar (lacht).

Auf Ihrer Facebook-Seite haben Sie erstmals nach einer Anne-Will-Sendung mit Ihrer Beteiligung eine persönliche Nachlese veröffentlicht. Wie ist dieser Aufklärungsbedarf entstanden?

Nein nein, die anderen hatten Bedarf. Die einen fanden mein, sagen wir: energisches Auftreten prima, die anderen nicht. Ich habe mich erstmal in Grund und Boden geschämt. Aber dann dachte ich mir: So what? Jedes Mal nehme ich mir vor, so sympathisch zu sein wie Giovanni di Lorenzo. Nie klappt das, keine Ahnung wieso. Aber jetzt fällt mir auf: Es liegt an Geissler, ist doch logisch.

Auf Ihrer Seite in dieser Sendung: Historiker Arnulf Baring, der gefühlt noch häufiger als Sie in deutschen Talk-Shows auftritt und diesmal überraschend als Bruder im katholischen Geiste vorstellig wird. Kann es sein, dass zu den wahren Verteidigern des katholischen Glaubens auch erstaunlich viele Nichtkatholiken gehören?


Ja. Die schlimmsten Gegner des Katholizismus sitzen in der deutschen katholischen Kirche. Wenn sie noch hingehen. Sie konzentrieren sich auf den Kampf gegen den Papst, gegen die Dogmen, gegen die Formensprache und Tradition der Kirche. Sie sind auch mehrheitlich nicht mehr in der Lage, das Credo zu beten: „Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, da winken die meisten ab. Wahrscheinlich soll das auch reformiert werden.
Baring dagegen hat ein Sensorium für die letzten Fragen, für Ritual und Tradition. Er war in der Sendung der einzige, der zu „Transzendenz“ und „Vergebung“ Wesentliches zu sagen hatte.

Bei Anne Will Ihnen gegenüber Heiner Geißler, den Sie in Ihrem Buch „Das katholische Abenteuer“ ordentlich abwatschen. Hatten Sie während der Diskussion das Gefühl einer unversöhnlichen Retourkutsche? Und wie begegnet man sich vor und nach der Aufzeichnung?

Ja, das geistige Oberhaupt der Reformkatholiken ist der unermüdliche Attac-Kämpfer Heiner Geissler, der sich als eine Art Bauchredner Jesu versteht. Er hat ja auch in der Sendung gesagt, dass er ohne Sünde ist, zumindest in den letzten zehn Tagen, und das ist schon ein göttliches Attribut: sündenfrei zu sein.
Nach der Sendung waren wir gemütlich miteinander. Er hat sich verabschiedet mit den Worten „Tschüss, Sie alter Gauner“.

Ebenfalls auf der Ihnen gegenüberliegenden Seite der Runde Autor Andreas Altmann („Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“), der sich auf dramatische Weise als Opfer der katholischen Kirche beschreibt. Was ist denn nun die Ausnahme, Ihr katholisches Abenteuer oder das des Andreas Altmann?

Altmanns. Hoffe ich. Er ist schwer gezeichnet. Ich habe ihm in der Sendung ja auch gesagt, dass ich Mitleid mit ihm habe, und das hab ich ernst gemeint. Diese Kindheit, die er erlitten hat, muss die Hölle gewesen sein. Oder er hat sie gut erfunden.

Was war da mit Ihnen und Angelika Kallwass los, die ebenfalls auf der „anderen Seite“ saß? Wie sinnvoll ist es die "Vertreterin der Populär-Meinung" so hart anzugehen?


Na ja, wenn sie die Kirche als bedeutungsloses Event bezeichnet, und die Unterwerfung unter Hitlers Mörderbande mit dem Gehorsam Gott gegenüber vergleicht – unter Hitlers Opfer waren viele gesetzestreue Juden, aber auch katholische Priester – dann ist das schon irre. Es ist dieser gedankenlos hingeplapperte Atheismus, diese stolze Ignoranz religiösen Fragen gegenüber, die mich ärgert. Und dann gibt sie am Schluss noch der Kirche die Schuld am religiösen Analphabetismus unserer Gesellschaft.


Warum ist der Nationalsozialismus scheinbar elementares Element vieler wichtiger Katholizismus-Debatten?

Hitler hat die Kirche gehasst. Er wollte sie ersetzt haben durch seine Partei. Er wollte das Gewissen abschaffen mit seiner Mörderbande, und das hat zu den bekannten Leichenbergen geführt.

Teilen Sie Barings Sehnsucht nach „etwas, das das eigene Ich in seiner Begrenztheit übersteigt“?

Absolut. Mein Leben lang. Gute Kunst im übrigen lebt von nichts anderem.


"Auf Sinnsuche auf katholischem Territorium", klingt das nicht angesichts des strengen katholischen Reglements und dann doch so vielfältiger alternativer Angebote sinnstiftender Lehren und Praktiken geradezu paradox?

Nee, gerade nicht. Zwischen all den kurzlebigen Hobbykellern der Spiritualität erhebt sich doch der Dombau der katholischen Kirche sehr eindrucksvoll, und das seit 2000 Jahren.

Sie erklärten „Freiheitliches Denken braucht Rituale“. Aber wann wird ein Ritual zur Zwangshandlung?

Der Besuch der Messe sonntags ist keine Zwangshandlung, sondern die Chance zur Selbstbegegnung und der Begegnung mit dem Schöpfer. Das ist sehr erfüllend. Und befreiend. Es befreit von dem überflüssigen, sinnlosen, gereizten Alltagskram.

Wie setzt man sich in Talk-Shows am besten in Szene?

Am besten ist es wohl, allen anderen ins Wort zu fallen und das Saalpublikum gegen sich aufzubringen. Dazu sollte man möglichst einen Anzug mit Einstecktuch und ein weißes Hemd tragen.

Und hier geht es weiter:
http://www.spiegel.de/video/video-1189763.html

Mittwoch, 11. April 2012

Mission: impossible

SUBWAY-Kolumne Mai 2012
http://www.subway.de/aktuell/lebensraum/kolumnen/artikel/lobet-den-herrn-nie-in-der-sauna-14461.html



Lobet den Herrn nie in der Sauna!

Dänemark ist nicht die Malediven. Nicht einmal Griechenland oder Mallorca. Dänemark ist Urlaubsland kinderreicher deutscher Familien. Dort fährt man hin, wenn man nicht so weit fahren möchte, schon nicht mehr kann, wenn man Flugangst hat, wenn der Hund noch mit muss oder wenn die Jüngsten nach vier Stunden Autobahn anfangen zu quengeln.

Nein, Dänemark ist kein Urlaubsland für Palmenfotos zum Angeben im Facebook. Es taugt gerade einmal für ein teilnahmsloses Schulterzucken: „Ja, da waren wir auch schon mal irgendwann. Hattet Ihr auch Regen?“ Nein, hatten wir nicht. Aber dafür ging der Wagen zwei Tage zuvor kaputt und wir fuhren dann zu sechst mit einem Dacia-Logan Leihwagen gen Norden.

Das ist tatsächlich Höchststrafe. Denn da passt zwar der Hund noch mit hinein, aber eigentlich nicht mehr das Gepäck. Auf dem sitzt man dann. Unbequem. Und die Angeln von der Penny-Angelwoche kleben an den Seitenfenstern.

Ja, Penny hat einmal im Jahr Angelwoche. Lidl auch, aber die kosten mehr. Denn wenn man zur Lidl Angelwoche muss, hat man die von Penny verpasst und dann wird’s teurer. Wir fahren also zufrieden mit den billigeren Penny-Angeln und einem rumänischen Leihwagen in den Familienurlaub nach Dänemark.



Das kleinstmögliche Abenteuer, wenn man denn überhaupt noch ein Abenteuer erleben will. Die Kinder freuen sich über die dänischen Kronen. Wir freuen uns über die Gratis Mathematik-Nachhilfestunde. 1 Euro sind 7,5 Kronen.

Und die Geldstücke haben auch noch lustige Löcher. Man kann die Fünfkronenstücke an einem Bindfaden auffädeln. An der Kasse vom Netto – gibt es auch in Dänemark, das Logo ist hier allerdings ein Hund mit Korb im Maul – dauert es dann etwas länger, wenn die Kinder ihr Taschengeld erst kompliziert aufknoten und abfädeln müssen, aber wir sind ja im Urlaub, da spielt Zeit überhaupt keine Rolle.

Mein einziger Luxus werden ein paar teure Angelköder aus dem einzigen Angelgeschäft Dänemarks in Kopenhagen: 145 Kronen für 25 in irgendetwas Stinkendem eingelegte Plastikwürmer, die angeblich jede Meerforelle in jedem Fjord Dänemarks in den Wahnsinn und an den Haken treiben.

Während ich also mit den Kindern am Wasser vergeblich auf die Wahnsinnigen warte, freut sich Frau auf die Sauna. Das war ihre Luxusforderung und wir fanden tatsächlich ein Ferienhaus, das so eine kleine Holzkabine beinhaltete.

Ehrlicherweise hat hier fast jedes Haus eine. Aber ausgerechnet die in unserem sprang natürlich nicht an. Und die gute Laune der Frau dann auch nicht, also rief ich sofort die Notnummer an. Man versprach auf Dänglisch, das wer vorbeikommt und das in Ordnung bringt.

Als ich am Abend mit den Kindern forellenlos nach Ferienhause komme, steht die Tür offen und wir hören Stimmen. Eine deutsche und zwei dänische. Ich gehe ins Bad und finde Frau in der Sauna frisch geduscht mit nassen Haaren im Badetuch eingewickelt. Und auf der hölzernen Bank im gelben Saunalicht sitzen ihr zwei ältere Dänen ganz artig im Anzug mit Krawatte gegenüber.

Frau lächelt irgendwie in meine Richtung und erfragt dabei in Richtung der Herren irgendwas am defekten Saunaofen. Jetzt muss man vielleicht erklären, dass Frau nie mit Brille duscht. Ehrlichweise kann man auch sagen, sie sieht so schlecht, dass sie quasi blind duscht. Aber blind duschen ist ja nicht so schlimm, denn die Gefahr, dass einem da ein vollbeladener Dacia Logan mit Hund entgegenkommt ist verschwindend gering.

Ebenso, wie es höchst unwahrscheinlich ist, das eine Frau nur im Badetuch zwei Zeugen Jehovas mit ihren Wachturmheften die Tür öffnet, sie in die Sauna führt und bittet den Saunaofen zu reparieren. In Dänemark ist es aber doch passiert.




Ich hab dann noch überlegt, die beiden zur Ablenkung nach der besten Forellenfangstelle am Ort zu fragen, aber dann ist mir eingefallen, das ich einen Zeugen Jehovas noch nie mit einer Angel gesehen habe. Das sind Menschenfischer. Oder Sauna-Monteure, das kommt ganz drauf an, ob man gerade blind aus der Dusche kommt oder etwas genauer hinschaut.

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