Gesellschaft

Freitag, 26. Dezember 2014

WIE FUNKTIONIERT EIGENTLICH FACEBOOK?

Wie facebook funktioniert an einem Beispiel erklärt.



Facebooker 1 hat einen Nussknacker im Fenster stehen. Das Fenster ist geputzt. Die Vorhänge sind gewaschen. Facebooker 1 macht ein Foto seines Nussknackers und postet es im Facebook.

Facebooker 2 – 17 geben dafür ein „gefällt mir“.

Facebooker 18 fällt auf, das der Nussknacker von Facebooker 1 mit dem Gesicht nach draußen im Fenster steht. Er kommentiert: „Schön, das Dein Nussknacker auch was von der Welt sieht.“ Und er setzt zusätzlich noch einen Smiley hinten dran: ;) Facebooker 1-73 geben dafür ein „gefällt mir“. Von den 73 haben 52 ebenfalls einen Smiley mit drangehängt: ;)

Facebooker 74 hat eine Idee! Er stellt seinen Nussknacker ebenfalls ins Fenster mit dem Gesicht nach draußen, macht ebenfalls ein Foto und bekommt dafür postwendend von Facebooker 74-112 jeweils ein „gefällt mir“.

Facebooker 114-219 stellen jetzt ebenfalls Nussknacker-mit-dem-Gesicht-nach-draußen-Fotos ein, nachdem Facebooker 113 eine neue Facebbo-Gruppe aufgemacht hat mit dem Namen Nussknacker-mit-dem-Gesicht-nach-draußen-Fotos.

Ein englischsprachiger Facebooker, nennen wir ihn Facbooker US 1, hat auch einen Nussknacker zu Hause im Fenster stehen, er dreht ihn einer Eingebung folgend um und macht ebenfalls ein Foto. Facbooker US 2 – 1193 tun ihm nach, nachdem Facebooker US 2 eine englische Gruppe aufgemacht hat mit dem Namen „Nutcracker looks outside“.

Weltweit werden im Laufe der kommenden Woche 52.983 Nussknacker in 52.983 Wohnungen in 52.983 Fenstern von 52.983 Facebookern gepostet.

Die Sache ist erst vorbei, als Facebooker 17.342, der als Spaßverderber schon bekannt ist und deshalb in den letzten Monaten bereits von 294 facebookern entfreundet wurde, wütend bemerkt, das Nussknacker in Kinderarbeit gefertigt würden und dazu einen entlarvenden Link eines deutschen Facebookers einstellt:

http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-12/kinderarbeit-tuerkei-sema-genel

Als Facebooker 21.354 bemerkt, das Facebooker 17.342 etwas falsch übersetzt hat, denn mit „Nussknacker“ seien lediglich türkische Kinder gemeint, die Nüsse knacken müssen für Nussschokolade und keine Kinder, die Nussknacker schnitzen, ist schon die Luft raus aus der Nussknacker-Umdeh-Bewegung. .

Ein paar Facebooker murmeln noch "Spielverderber!", da postet Facebooker 1 ein Foto von seinem Hund und kommentiert:

"Hunde sind die neuen Katzen!"

Eine Welle der Empörung rast einmal um den Erdball und sie dauert noch an, als die 52.983 Nussknacker längst wieder eingewickelt und in 52.983 Kellern in 52.983 Weihnachtskisten verstaut sind.

Bescheuert, oder nicht?

Montag, 15. Dezember 2014

TAGESSCHAU LEISTET ABBITTE FÜR LUTZ BERGMANN VON PEGIDA

Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: Nach kritischer Nachfrage bei Tagesschau.de, ob "Kriminelle(r) Kopf" journalistisch bzw. juristisch korrekt sei, ändert Redaktion vorsichtshalber Ihre Headline.

dthztjk

Samstag, 6. Dezember 2014

MARTIN RÜTTER IM HAKENKREUZ T-SHIRT ?

Modischer Fauxpas bei VOX:

Martin Rütter moderiert "Der Hundeprofi" zum Nikolaus mit "Hakenkreuz" T-Shirt im Hippie-Design.

Rütters Hakenkreuz-Version findet sich hier :
http://pixgood.com/buddhist-swastika-pattern.html
(Bild aufrufen: "S400 swastika", dann obere Reihe Mitte, zweites Hakenkreuz von rechts "Malta")

Montag, 20. Oktober 2014

Good Luck – Finding Yourself

Veröffentlicht im CICERO:
http://www.cicero.de/salon/dd-search-nice/58349

Hier in voller Länge in unlektorierter Autorenversion:



The search is nice

„Ich dachte ja, wir werden alle schön alt zusammen, und es wird alles noch einmal wieder gut“, spricht Jutta Winkelmann anrührend und mit flüchtigem Lächeln. Und fast entschuldigend ergänzt sie – oder besser: übersetzt sie – hinüber zum neben ihr ruhenden Rainer Langhans: „Das Ego will ja nicht sterben.“ Der aber bleibt stumm. Geschlossene Augen. Ganz weit weg.

Die Szene passiert irgendwo am Strand von Kovalam im südwestindischen Bundesstaat Kerala. Jutta und Rainer lehnen scheinbar sorglos und entspannt an einem dieser glattpolierten Felsen wie man sie aus Hochglanzprospekten von den Malediven kennt.

Der Dokumentarfilm „Good Luck – Finding Yourself“, der am 23. Oktober in die Kinos kommt, hat allerdings wenig von einem unbeschwert luxuriösen Urlaubstrip. Jutta Winkelmann hat Knochenkrebs mit Metastasen. Ihre Indienfahrt versteht sie als finale Pilgerreise. Eine exotische Prozession rund um ihren Krebs, den „König aller Krankheiten“, wie ihn der in Neu-Delhi geborene Arzt Siddhartha Mukherjee in seiner Pulitzer-Preis-ausgezeichneten Krebs-Biografie nennt. Rainer Langhans wird sich auf ihn beziehen, wenn er sich während einer Autopanne mit Jutta Winkelmann etwas abseits der Hektik der Straße bewegt und man wenige Meter weiter in eine ländliche Stille versinkt – ein indischer Time-Tunnel.

Eine Kuh muht herzzerreißend, eine Großfamilie steht stumm vor ihrem lehmverputzten Haus. Aufgestellt wie vor dem Daguerreotypie-Apparat eines Ethnologen. Und auf dem weiten Hof davor flattern die Hühner um ein klappriges Bettgestell, auf dem ein uralter Mann sitzt, der durch eine dickglasige Brille starr und ausdruckslos die beiden Fremdlinge beschaut. Hat sich Weisheit angesammelt in diesem gelebten Leben an der Schwelle zum Tod? Oder wenigstens eine
Botschaft? Die Kamera scheint darüber nachzudenken, verweilt ein paar Sekunden. Aber die Fragen bleiben offen. Ein schneller Schnitt. Und brutal laut rasen wieder Autos vorbei. Indien in Bewegung.



Starke Szenen, die Severin Winzenburg da einfängt, und der wiederum ist nicht nur irgendein junger, ambitionierter Doku-Filmer, sondern Juttas Sohn – also ist eine weitere Ebene theoretisch programmiert. Aber nein, die finale Mutter-Sohn-Konfrontation ist Winzenburgs Sache nicht. Nur ein, zwei Sätze überschreiten die unsichtbare Schranke zwischen Kamera und Motiv. „Jutta lernte Rainer 1974 kennen, zu der Zeit war Reiners indischer Lehrer Kirpal Singh gerade verstorben. Seitdem sucht sie etwas Eigenes, einen Nachfolger,“ kommentiert er aus dem Off.

Also kein familientherapeutischer Ansatz. Keine Aufarbeitung. Aus Erfahrung klug? Immerhin begleitete der heute 36-jährige 2008 einen Familienangehörigen mit der Kamera: „My american Cousin“ meint Balthazar Getty, Sohn seiner Tante Gisela, Jutta Winkelmanns Zwillingsschwester. Der Schauspieler Balthazar Getty, der auch Musiker ist,liefert nun einen Teil der Filmmusik.

Mutter-Sohn-Beziehungen sind ja subtiler als diese Vater-Sohn-Dramen, wie sie beispielsweise aktuell der Norweger Karl-Ove Knausgaard in „Min Kamp“ über tausende von Seiten zelebriert hat. Aber selten sind sie deshalb trotzdem nicht. Kästner setzte ihr ein Denkmal in „Meine Mutter“ und Rainer Maria Rilkes Briefe an seine Mutter kommen regelmäßig aus der weiten Welt in die Enge des Altenheims. Heute steht die klassische Familie auf dem Prüfstein. Aber die Mutter-Sohn-Beziehung wird diese Verwürfnisse überleben. Die Nabelschnur ist ihr ehernes Band. Und ihre Rekonvaleszenz eine Daueraufgabe.

Severin geht weit zurück. Unsichtbar hinter seiner Kamera. Eine Annäherung also aus der unnatürlichsten Perspektive einer Mutter gegenüber: als neutraler Beobachter. Ein Konflikt, der durch alle Sequenzen hindurch spürbar ist. Und wenn es gar nicht mehr erträglich ist, wenn die Emotionen überborden, fällt der Vorhang. Aber nicht ganz, wenn der Sohn noch durch einen winzigen Spalt der Mutter beim Weinen, beim Jammern und beim Medikamente einnehmen zuschaut.

Die Bühne gehört ganz Jutta Winkelmann. Und ihren Weggefährten seit Jahrzehnten. Wenn man deren Tun auf Rollen reduzieren würde, wäre Jutta das Herz, Christa das Hirn, Brigitte der Körper und Rainer so etwas wie das Über-Ich. Brigitte verdammt zum Schönsein, zickig, divenhaft, Jutta zuständig für Wärme und Herzlichkeit, das vergebende Element, Christa ist die mit der scharfen Zunge, hinterfragend, was man denn da eigentlich täte. Und Langhans über allem schwebend. Gefangen in der Isolation des ewigen Supervisors.

„Good Luck – finding yourself“ ist eine Dokumentation. Ist aber auch ein Roadmovie quer durch Indien mit dem Boot, dem Auto, Rikschas, Flugzeugen und immer wieder Eisenbahnen. Ist eine Indienreise mit Jutta Winkelmann, Christa Ritter, Brigitte Streubel und Rainer Langhans auf der Suche nach Hilfestellung zur Erleuchtung direkt vor Ort: eben das traditionelle Motiv der westlich-kapitalistischen Sinnsucher im spirituellen Indien.

Dabei ist Indiens Wirtschaftswachstum heute dreifach höher als das der Bundesrepublik. Diese veränderten Verhältnisse sind dann auch die Startrampe für Dissonanzen. Unsere Protagonisten sind augenscheinlich, was sie oft so angestrengt zu vermeiden suchen: Aus der Zeit gefallen mit einer seltsam deplatzierte Haltung, die – wenn auch auf anderem Niveau – wohl noch jede Rentnerurlaubstruppe zu bieten hätte. Wenn man sich immer wieder mit offensichtlich typisch deutschen Wohlstandsdruckstellen für die schlichte Eleganz der Armut begeistert und gleichzeitig über Lärm und Schmutz beschwert, das kann schon unerträglich sein.

Da fragt man sich, welchen Sinn es noch macht, wenn das Private politisch sein soll, aber das Politische, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Elend, einfach nicht mehr den Weg ins Private finden. Abgestumpft im Einzelkampf. Ja, das nervt, wie es schon so oft genervt hat, wenn Langhans und seinem Harem auf Missionstour waren. Oder besser: Könnte nerven, denn hier und in diesem Moment ist es erstaunlicherweise ohne jede Relevanz.

Dieser Langhansche Habitus rund um seinen Harem ist so harmlos, so nebensächlich geworden, das man allenfalls schmunzeln muss über die wenigen Zitate aus dieser Parallelwelt. Indien live schluckt einfach alles weg. Wunderbares Indien: Th search is nice.



„The search is nice!“, so antwortet Jutta Winkelmann als sie von einem europäischen Indienreisenden gefragt wird, warum sie überhaupt auf der Suche sei. Dann ein Schnitt zurück nach München: „Ein Jahr zuvor“. Jutta und ihre Tochter liegen sich im Bett in den Armen. Die erwachsene Tochter unter Tränen: „Ich will einfach, dass alles so bleibt wie es ist. Ich will, dass meine Mama da ist!“ Jutta streicht mechanisch über die lockigen Haare der Tochter. Schon ganz fern von der Welt. Eine schöne magere Hand. Halbmondfingernägel, Adern wie Flüsse und erstaunlich wenig Falten für eine 65-Jährige.

Hände sind auch ein Schlüsselmotiv des Films. Großaufnahmen. Streichelnde, fassende, suchende, bittende, wundervolle alte Hände. Dürerhände. Weisheit. Wisdom. Einmal, im Zug oder Flugzeug, reicht Langhans Jutta die Hand. Nicht einfach so, er lässt sie mit der Handfläche nach oben in ihre Richtung fallen, bietet seine Hand an, schaut ihr dabei von der Seite auf eine ernste Weise zärtlich aufs traurige Gesicht – das sind starke Szenen voller Emotionalität an der Kamera vorbei.

Oder doch nicht, denn hier filmt ja der Sohn. In solchen Momenten erinnert man sich daran. Klar, das könnte man auch spielen. Aber darum geht es nicht: Es wirkt einfach echt. Authentisch. Und das sind dann auch jene Szenen, die diesen Film, der sicher auch seine Längen hat, so fest zusammenhalten.

Die atemberaubende Indien-Kulisse macht nun aus solchen einfühlsamen Kammerspielszenen großes Kino. Wir sind auf dem Kumbh Mela, einem hinduistischen Fest und das größte religiöse Fest der Welt. Jutta und Rainer gehen eine breite, unbefestigte dammartig erhöhte Straße entlang. Eine baumlose Allee. Es ist Abend. Es ist kalt. Gelbes Kunstlicht. Staubiges Licht. Rechts und links unzählige Buden und Zelte. Hier wetteifern Sekten, Religionsgemeinschaften und Gurus um Gläubige. Hier wird nichts weiter feilgeboten, als wieder die nächste Erleuchtungsalternative. Ein großer Nirwana-Jahrmarkt mit Anreißern wie auf der Reeperbahn. Ballonverkäufer, Kerzenhändler, grellbunte Prozessionen.

Rainer und Jutta wandern ziellos die unendliche Guru-Strecke ab. Orientierungslos. Und – na klar – auch symbolhaft für diese nervenaufreibende, jahrzehntelange Suche und Selbstzerfleischung im heimischen München. Jetzt scheint die Zeit knapp geworden für Jutta. Wo soll man nun noch schauen, wo verweilen?

Eine große Sinnlosigkeit. Menschen huschen vorbei wie Schatten. Ja doch, in diesem Moment befindet sich die Dokumentation „Good Luck – Finding Yourself“ auf ihrem emotionalen Höhepunkt. Absolute Klarheit. Und beißende Einsamkeit hier in diesem echten Leben, das so surreal erscheint. Endzeit ist angebrochen. Krebszeit.

Ein großartiges filmisches Requiem auf das Leben.

Donnerstag, 4. September 2014

DIE INTERIMSNOMADEN


http://www.kn-online.de

Ich weiß es gar nicht, gibt es überhaupt Leute, die nie in den Urlaub fahren? Sicher, Alte, Kranke oder anderweitig Eingeschränkte. Aber an die dachte ich nicht. Also ja, ich glaube schon, ohne es auf der Heimfahrt aus dem Urlaub googlen zu können, dass es Menschen gibt, die immer am selben Ort verweilen, für die Heimat schon deshalb zum Gefängnis wird, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, zu verreisen.

Heißt, Urlaub für alle bräuchte also eine monatliche Rücklage um einmal im Jahr für ein paar Wochen die Heimat von einem fernen Punkt aus zu betrachten. Es müsste also so etwas wie ein irgendwie verbrieftes Recht auf Urlaub geben, so wie es ein Recht auf Gesundheitsvorsorge gibt.

Doch, ich meine mich zu erinnern, das es für Hartz4ler und Arbeitslose eine bestimmte Zeitspanne gibt, in der diese nicht für Vermittlungen zur Verfügung stehen müssen. Eine Zeitspanne, die mit „Urlaub“ hinreichend begründet ist. Und es gibt Zuschüsse für Kinder, die Klassenfahrten oder Ferienfreizeiten machen.

Perspektiven verändern. Aber nicht als staatliches Belohnsystem wie etwa im III Reich dank „Kraft durch Freude“. Mein Großvater unternahm eine solche Reise wohl irgendwann 1940 berichtet die Mutter, als wir jetzt Richtung Norwegen aufbrachen. Opa war damals ungefähr so alt, wie ich es heute bin. Er brachte meiner Mutter damals eine kleine, mit Sägespänen gefüllte Matrosenpuppe mit. Mutter nannte sie „Hein“.

Hein ging 1945 auf der Flucht verloren oder er wurde nicht für Wert empfunden, vor der heranrückenden Roten Armee gerettet zu werden. Was aus Hein geworden ist, wäre eine interessante Frage, die aber wohl für immer unbeantwortet bleiben muss. Heins Nachfolger hießen Peter und Edeltraud.

Nachkriegspuppen. Weniger geliebt. Nur gemocht. Für Sie als Leser könnte es interessanter sein, zu erfahren, das der Opa damals ausgerechnet mit der Wilhelm Gustloff nach Norwegen fuhr. Jenes Schiff, das später für tausende Flüchtlinge zum Massengrab in der eiskalten Ostsee wurde.

2014 brettern wir schon eine Stunde nach der Ankunft mit dem 30 PS Yamaha-Motorboot über die Fjorde, während die Frauen noch auspacken und sich über die fehlenden Schränke beklagen. Ich hab's schon wieder vergessen, aber der Jüngste berichtete auf der Heimfahrt irgendwo zwischen Aalborg und Aarhus, dass unsere ersten Fänge Minuten nach dem Auswerfen ein kleinerer Dorsch und ein läppischer Köhler waren.

Die Sache fing also zumindest vielversprechend an. Der norwegische „Sommer des Jahrhunderts“ allerdings, von dem ein guter Freund noch Wochen zuvor begeistert sprach, als er stolz Fotos von den zwei selbstgefangenen Makrelen ins Facebook hämmerte, war beendet. So hatten wir den Herbst des Jahrhunderts. Denn so fühlte es sich drei Wochen lang an: wie eine ziemlich milde dritte Jahreszeit mit zwei sonnigen Tagen, die wir im letzten Norwegenjahr noch an einer braungebrannten Perlenkette aneinanderreihen konnten.

Hatte uns das Ferienglück der letzten Jahre – immer die beste Hütte, die tollsten Leute, die spannendsten und überraschendsten Erlebnisse und das beste Wetter – zum ersten Mal verlassen?

Nein, denn es kam dieses Mal aus einer anderen Richtung und als schuppige Entschuldigung. 132 Makrelen schon am vierten Tag in der Truhe. Die Kinder stehend im Boot entrissen dem düsteren Fjord eine der schillernden Schönheiten nach der anderen. Miniaturversionen vom Thunfisch. Herrliche Tiere.
Schmackhafte Omega-3-Bomben. Und welcher Vater würde sich da trauen, diesen Reigen aus jagen, fangen und killen vor der Zeit zu stoppen?

Nun gut, wer schon einmal Makrelen geangelt hat, weiß, das 132 Stück ein ziemlich blutiges Gemetzel bedeuten. 132 mal den Totschläger zücken und zwischen die starren Augen sausen lassen - ein Butbad im schneeweißen Boot. Und die sportlichen Viecher zappeln dann noch eine Weile weiter. Elektrische Entladungen über Minuten. Die Angeln sausten derweil gnadenlos weiter.

Glänzende Kinderaugen versus ermattender Makrelenblicke. Und die Kollegin, die ebenfalls etwas früher an selber Stelle ihren „Sommer des Jahrhunderts“ erlebte, jagte, erlegte und zerlegte sogar den Dornhai, der hier seit 2010 unter Schutz steht, aber darüber lachen die Einheimischen herzlich, denn der Dornige beißt hier immer als erstes, wenn man nicht zufällig ganz tief in so einem Makrelenschwarm zu versinken droht.

Einen Fisch auszunehmen, ist noch einmal etwas anderes, als ihn nur zu fangen. Und nun stellen Sie sich diese unschön zu beschreibende Sauerei einmal multipliziert mit 132 vor. Nicht, das man sie nicht essen oder einfrieren und mitnehmen könnte, aber bis zum Filet ist es ein weiter blutiger Pfad.

Also sagen wir es frei heraus, die Makrele hat keine Fürsprecher. Die Hälfte gibt es beim Penny für 1,49 Euro. Fest im Sortiment, aber wohl kein Megaseller, dafür sieht das geräucherte Stück einfach nicht attraktiv genug aus. Frisch hingegen, auf dem Grill in Alufolie gebacken, eine Augenweide, ein Gaumenschmaus bis zur Gallenkolik. Aber selbst dieses kleine gallige Miststück gewöhnte sich gottseidank irgendwann.

Aber rasch noch zurück zur Eingangsfrage. Ja, der Mensch ist ein Suchender. Das liegt in seiner Natur. Urlaub ist, so man nicht All-inclusive verreist, mehr als nur eine notwendige gewerkschaftlich dem Arbeitgeber abgetrotzte Erholungspause. Also nicht „Kraft durch Freude“, sondern analoge und zeitlich eng limitierte Ersatzbefriedigung für einige menschliche Grundbedürfnisse wie beispielsweise Neugierde, Abenteuerlust, Entdeckerfreude. Inspiration. Eben die absichtsvolle Begegnung mit dem Fremden.

Ich habe nie verstanden, was Freunde und Kollegen in diesem Zusammenhang dazu veranlasst, über Norwegen die Nase zu rümpfen, als reise man nur etwas weiter ins dänische Hinterland. Wer nach drei Stunden Fährfahrt an norwegischen Gestaden anlandet, der betritt echtes Neuland. Dem füllt die klarste Luft die Lungen mit Hoffnung. Immer wieder. Und darum geht es doch.

Der ideale Verstärker 2014 im Reisegepäck übrigens dieser sensationelle – ok, Jahrhundertschriftsteller ist zu dicke, aber : – Schriftsteller des Jahrzehnts, Karl Ove Knausgård, der neue Literatur-Megastar aus … genau: Kristiansand/Norwegen, der mit „Min Kamp“ die norwegische Seelenlandschaft über tausende von Seiten in einem phänomenalen Ich-Striptease hingeblättert hat. Vertrauen Sie mir, der Junge schreibt, als zöge sich der Fjord-Dornhai höchstselbst die festsitzende Sandpapierhaut vom Filet. Filetliteratur! Abenteuerurlaub Norwegen mit zusätzlicher Knausgård-Meta-Ebene.

Und dann sind drei Wochen schon wieder vorbei. Und man quält sich stundenlang über die Autobahn Richtung Heimat. Weg von einem Abenteuer, das nun in der Rückschau bereits erscheint, wie eine Belohnung, eine Abgeltung irgendeiner Quälerei, die wir Arbeit nennen.

Und neue Arbeit wartet, die wieder zwölf Monate lang eine Abenteuer-Belohnung ansparen soll. "Ja sind wir denn verrückt?", fragen sich Woche für Woche etliche Deutsche bei VOX bei „Goodbye Deutschland“ und flüchten ins Dauer-Abenteuer, das dann aber doch wieder nur eine komplizierte Verlagerung des Arbeitsplatzes wird, wenn man überhaupt einen neuen bekommt. Die alte Heimat wird täglich fremder, die neue heimatlicher. Komischer Deal, oder etwa nicht?

Liegt die Lösung im Nomadentum? Und wie viel Nomade steckt noch im dänischen Wohnwagenbesitzer? Fast mehr Fragen als Makrelen. Und am Ende ist es natürlich wieder ganz schnöde eine Frage des Budgets, der Urlaubskasse, die gefüllt sein will. Schließlich machen wir mit vier Kindern und einer großzügigen Oma nicht mehr auf Rucksacktouristen.

Petri Heil!

Donnerstag, 22. Mai 2014

Frank-Walter Steinmeier 's lächerlicher Ausraster



Hier zur live-Aufzeichnung:
http://www.youtube.com/watch?v=AX5m5swD-QU

Ach herrje, da spielt der ach so besonnene Steinmeier mal den kalkulierten Wütterich und schon liegen Frank-Walter die sozialdemokratisierten Massen auf Youtube reihenweise zu Füßen. Mit heißgelaufenem cholerischem Bariton in Überlautstärke überhaupt nichts Substanzielles gesagt und doch vortrefflich den Ton getroffen. Ja geht’s noch?

Hat sich da einer auf den Weg gemacht, doch nochmal eine persönliche historische Marke zu setzen? Denn von seiner gewesenen Außenministerzeit 2005-2009 ist ja nichts Aufregendes im Gedächtnis hängen geblieben. Die Vizekanzlerschaft von 2007-2009 ebenfalls Fehlanzeige. Dann ein paar Jahre saure Gurkenzeit und 2013 mit der Großen Koalition doch noch der unverhoffte Wiedereinstieg rechts von einer stabilen linken Mehrheit.

Höchste Zeit, dachte sich wohl nun der erneut veraußenministerte Steinmeier, seine bisher so blasse Polit-Karriere mit Heldentaten historischen Ausmaßes zu vergenschern. Dafür braucht’s aber die adäquate Krise! Aber leider taugt die Ukraine nicht für so etwas, wie Genschers historische Balkon-Rede. Kein deutsches Problem. Keine Emotionalisierung von Landsleuten über grenzen hinweg. Keine Ahnung. Und wie klänge das auch, wenn Steinmeier in einem russisch befreiten Donesk den verdutzen Rest-Ukrainern erklären würde: „Ihre Ausreise wurde bewilligt!“

Also kein goldener Lorbeerkranz in Aussicht. Keine Marmorbüste im Regensburger Walhalla beauftragt. Nein, nicht einmal für einen historischen Farbbeutelwurf samt geplatztem Trommelfell reicht es aktuell beim Steinmeier.

Also muss eine Strategie her: Wie wäre es denn, wenn wir nicht länger warten, sondern dort hingehen, wo man sich regelmäßig aufregt? Also abgemacht und Reichsparteitag mit Frank-Walter Steinmeier auf dem Berliner Alexanderplatz, der sonst Woche für Woche ein paar versprengten Montagsdemonstranten alleine gehört. Perfekt alleine schon deshalb, weil deren merkwürdige Anliegen medial bereits im Vorfeld ausreichend diskreditiert wurden. Und die Demo-erprobten Montägler halten Wort: „KRIEGSTREIBER!“ Das ist dann so schön laut und deutlich zu verstehen, dass Steinmeier sein Glück kaum fassen kann. Und überall Kameras! Zwei besonders gut positioniert in Richtung Steinmeier und Demo-Grüppchen.

Zunächst stockt Frank-Walter fast der Atem, wie er einem stockt, wenn die Gelegenheit endlich da ist, dann poltert er schon zu laut und deutlich zu überengagiert los:
„Ihr habt kein Recht! Der deutschen Sozialdemokratie muss man nicht sagen, warum wir für Frieden kämpfen!“ Wow!, das ist die große Ausholbewegung mit den ganzen ollen Kamellen, die Schröder und sein grüner Sozialpartner Fischer schon im ersten katastrophalen Durchgang geschmissen hatten, als man ihnen die Kampfjets über Belgrad verbieten wollte, als mit einem Handstreich Helmut Kohls Anti-Kriegseinsatzpolitik und Willy Brandts "Vom deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“ posthum in den Lokus verfrachtet wurden.

Das muss man sich mal vergegenwärtigen, da protestieren Menschen auf dem Alexander, so wie andere mit viel größerer Not auf dem Maidan, dem Tahir oder sonstwo und Steinmeier, der von Vertretern des Koalitionspartner gerade gesagt bekam, seine Mission in der Ukraine sei planmäßig gescheitert, nimmt sich so ein paar harmlose Montagsdemo-Bürschchen und geifert in die aufgestellten Kameras: „Weil wir den Frieden wollen, dürfen wir es euch nicht so einfach machen! Es gibt immer noch Menschen, die Europa nicht verstanden haben.“ Niemand hätte wohl im Traume von dem Häufchen Elend mit so viel Aufmerksamkeit gerechnet.

Und was soll man sagen, man will es kaum glauben, aber die Strategie geht auf. Nichts gesagt, aber dieser Schreihals-Ton, diese perfekt inszenierte Empörung kommt bei den Menschen vor den Computern gut an. Klick, Klick, Klickerdiklick.



Und man kann sogar relativ genau sagen, seit wann das so perfekt funktioniert: Die kritische Marke jeder oppositionellen Grundhaltung war mit Bekanntwerden des NSA-Skandals und der Überwachung des Merkelschen Telefons überschritten. Seit dem gibt das Stockholm-Syndrom den Ton an. Ein gigantischer Solidarisierungseffekt. Sorge regiert wieder. Nun soll einfach alles so sein wie früher. Eine große Sehnsucht wächst nach der Bonner Republik und den stereotypen Ost-West-Feindbildern. Und Steinmeier spielt diesen Stockholm-Syndrom-Effekt perfekt aus. So schafft er es tatsächlich gegen jede Logik, gegen den gesunden Menschenverstand glaubhaft zu machen, das diese paar versprengten Montagsdemonstranten stellvertretend seien für eine kritische Masse von Menschen, die in der Lage sein könnten, Steinmeiers – nein, Deutschlands! – Außenpolitik zu gefährden.

Die FAZ berichtete perfekt begleitend, Frank-Walter Steinmeier vergleiche seine Tätigkeit als deutscher Außenminister mit der eines Ingenieurs, der vor einem Graben stehe: „Hier die Erwartungshaltung der außenpolitischen Elite des Landes aus Wissenschaft, Stiftungen und Publizistik, Deutschland möge gemäß seiner wirtschaftlichen Bedeutung mehr außenpolitische Verantwortung in der Welt übernehmen. Dort die Skepsis in der breiten Öffentlichkeit gegenüber einer stärkeren Rolle Berlins in der Welt. Ein Ingenieur würde sagen, erklärt Steinmeier (...) im Weltsaal des Auswärtigen Amtes, über diesen Graben lasse sich keine Brücke bauen. Die Politik aber habe keine Wahl.“

Ja ne, ist klar. Und auf alle Fälle beeindruckend, dass mal ein hochrangiger Politiker offen klar stellt, das längst nicht mehr das Primat der Politik gilt, sondern der außenpolitische Kurs im selben Maße von den global operierenden deutschen Unternehmen, vertreten von ihren Stiftungen und der Publizistik, bestimmt wird.

Was lernen wir daraus? Politisches Scheitern wird uns heute als herzerweichender Kampf gegen Windmühlen verkauft. Vorne weg und jetzt auch hart am Wind: der krächzende Sancho Panza der deutschen Außenpolitik. Einer der sich Sozialdemokrat nennt und nicht einmal genug Arsch in der Arbeiterhose hat, den Menschen reinen Wein einzuschenken, Ihnen mal klipp und klar zu sagen, dass das Modell Deutschland auf der internationalen Bühne zur Lachnummer geworden ist. Nein, der Bürger soll heute gefälligst intuitiv verstehen, was man sich nicht traut laut und klar auszusprechen. Rauszuschreien sowieso nicht.

Politik für Deutschland ist anachronistisch geworden. Aber wozu so frech beschweren, solange der Kühlschrank noch immer gut voll geamcht wird? Nein, Deutschland war nie souverän, Deutschland ist nicht souverän und Deutschland wird es nie mehr sein. Souveränen Gestus zeigt man heute nur noch gegenüber wenigen Hartzern und paar Studenten auf dem Alexanderplatz, wenn man ihnen in Selbstverliebtheit und bigotter Entrüstung entgegengeifert:

„Europa, das ist die Lehre von Zeiten, in denen sich Menschen nicht zugehört haben, in denen man aufeinander geschossen hat. Ich fordere Euch auf, hört zu!“

Das ist natürlich nicht zum Totschießen, sondern zum Totlachen. Keine Sorge, lieber Frank-Walter, von diesen Montagsdemonstranten hast Du nicht zu befürchten. Deshalb hast Du sie Dir ja auch für Deine Wutrede ausgesucht und nicht Deinen Kollegen John Kerry oder den nächsten vorlauten Aufsichtsratsvorsitzenden, der morgen oder wann immer mit großer Fresse unangemeldet in Dein Büro platzt oder Dich gleich in seines zitiert. Herrje, wie erbärmlich das alles ist.

Montag, 10. März 2014

Matthias Matussek wird 60 - Glückwunsch!

Mitten im Bonus des Lebens


http://cdn2.spiegel.de/images/image-212311-videopanoplayer-rbuz.jpg

Lieber Jubilar,

gut, die nackte kalte Wahrheit gleich zuerst. Machen wir uns nichts vor Matthias: 60 Jahre alt zu sein, ist hart, eigentlich sogar richtig scheiße. Nein, 60 ist auch keine Hausnummer, an der wir mal eben vorbeimarschieren könnten, als hätte man die weiteste Strecke noch vor sich. 60 ist schon verdammt alt. Zumindest dann, wenn man schon mal 20, 30, 40 und 50 war. 60 ist Synonym für Rentner.

Zumindest für die, die 40 Jahre körperlich hart malocht haben. Gut, hast Du nicht. Du bist ja ein Dichter und Denker. Und diese Berufsgruppe ist ärmer dran, als der ärmste Polier, denn als Edelfeder hat man keine Ausreden, nicht mehr produktiv sein zu wollen. Edelfedern müssen Tinte spritzen bis zum bitteren Ende. Also wenn Du so richtig Pech hast, geht das Theater noch satte 30 Jahre munter so weiter. Also 30 Jahre immer brutal am Zeitgeist lang, immer mit dem Leben der Jüngeren im Update bleibend. Ne ne, 60 kann für Dich nur ein kurzer, schneller Boxenstopp sein. Ein Time-Out allenfalls als Gelegenheit, mal an sich herunter zu schauen. Narben, Verletzungen und chronische Krankheiten zählen. Inventur machen also.

Die allerbesten Jahre bereits hinter sich

Aber selbst dann, wenn man darüber hinweghasten möchte, bleiben doch diese unbestechlichen Statistiken in ihrer für einen 60-Jährigen wohl verachtenswertesten Sprache: 30 Prozent aller 50-54 Jährige beklagen gesundheitliche Einschränkungen, bei den 60-65 Jährigen sind es bereits 50 Prozent. Nein, das Leben schreitet nicht einfach nur so voran, wie ein majestätischer Fluss, die Sache entwickelt sich gerne mal zum gefährlichen Sturzbach. Wer behauptet, es verliefe linear, der versteht nichts vom Leben.

Jeder über 45 weiß, dass man jetzt, mindestens körperlich, seine allerbesten Jahre bereits hinter sich hat. Ab 45 beginnt zwar noch nicht der Altenteil, aber schon so etwas, das man als Bonus des Lebens bezeichnen könnte. Gut, man kann den körperlichen Verfall mit viel Sport und Schweiß konservatorisch noch eine Weile bekämpfen, aber es bleibt, was es ist: reinster Sisyphos.

Nun liegt natürlich viel an den Begleitumständen und der so genannten „inneren Einstellung“. Zählen die einen was war anhand der Einschläge, ziehen andere ihre Erfolgsbilanz. Oder kürzer: Pessimismus vs. Optimismus.


http://www.takkiwrites.com/wp-content/gallery/buchmesse-2009/matthias-matussek-web.jpg

Bei Dir lieber Jubilar ist das freilich noch einmal etwas komplizierter. Denn natürlich sahst Du die 60 schon kommen, als sie noch gar nicht um die Ecke gebogen war. Und weil Du Dich sorgtest, was da nun kommen würde, hast Du die Sache schon mal im Vorfeld durchexerziert, indem Du Dich literarisch an einem Gleichaltrigen abgearbeitet hast, der schon ein paar Wochen früher als Du die 60 erreichte. Quasi als Testdurchlauf und – na klar – auch als versteckte Bitte, wie Du selbst behandelt werden möchtest, wenn die Zeit gekommen ist, wenn man ganz verlegen mit 60 roten Nelken vor Dir und Deinem Geburtstagsschaukelstuhl steht.

Nicht der Helmut-Schmidt-Weg

Also gedanklich, denn Du bist ja rechtzeitig nach Rio geflüchtet, um dort durch den Karneval zu tanzen, als wärst Du wieder 25 – herrjee. Ausgerechnet dort, wo Du ein paar Jahre lang für den Spiegel tätig warst: „Matthias Matussek, unser Mann aus Rio.“ Wir dürfen also annehmen, das dieser Abschnitt in Deinem Leben ein besonders wichtiger für Dich war, dass Du Dich zu diesem zwiespältigen Jubiläum dorthin verkrochen hast. Aber zurück zum Gleichaltrigen. Gemeint ist der Pop-Titan. Über eine Begegnung mit Dieter Bohlen – übrigens rein zufällig ebenfalls in Rio! – schriebst Du etwas, das perfekt geeignet ist, Deinen Vorab-Gemütszustand zu erzählen:

„Nun ist er also 60 geworden. (…) Er hat ja schon vor mindestens 30 Jahren jene Apfelbäckchen-Alterslosigkeit erreicht, die das Ziel der Peter-Pan-Generation ist. Es sei denn, man sieht aus wie ein ehrwürdiges Monument aus Exzess und Verfall und Drogen. Bohlen ist die Vitaminvariante. Glückwunsch, Dieter Bohlen, prima hingekriegt, dieses Leben ohne Risiko, aber auch ohne Aussetzer. Nun ist er 60. Ich bin es in drei Wochen. Wie entsetzlich!“

Ohne die Psychologie zu sehr zu bemühen, unterliegst Du hier natürlich einer Fehleinschätzung. Nein, dieser dunkelbraune Falten-Bohlen, diese Botox-Variante eines Joachim Gauck, dieser quengelige Shar-Pei II aus Tötensen, dieser seit Jahrzehnten in die selbe zu enge Stonewashed-Jeans Gequetschte, sieht keineswegs jünger oder frischer aus als Du. Ihr beide seid nun einfach 60. Und man sieht es Euch an.

Lieber Jubilar, stimmt, das ist keine Schmeichelei. Und seien wir ehrlich, Dir in diesen rauen Tagen zu schmeicheln – Geburtstag hin oder her – hätte auch etwas von einem Himmelfahrtskommando. Nein, Du hast Dich schon vor Deinem 60-sten entschieden nicht den Helmut-Schmidt-Weg zu gehen. Denn anstatt Dich nun in aller Seelenruhe die kommenden 30 Jahre mit Menthol-Zigaretten zu belüften, hast Du das rostige Bajonett poliert, umstandslos aufgepflanzt und Dich ins Getümmel gestürzt, als gäb’s kein Morgen.



Rumble in the Jungle im Feuilleton

Die Geburtstagsständchen gerieten entsprechend unterirdisch. Aber so ist das wohl, wenn man die Frechheit besitzt, wenn man noch mal in den Ring steigt, ein paar brutale Uppercuts austeilt und dann selbst mit ein paar üblen Cuts einfach nicht auf die Matte will. Rumble in the Jungle im Feuilleton. Ein großes Tohowabou und Du wütend und grinsend zugleich im Auge des Hurricans.

Und der beste Zeitpunkt, es frei heraus auszusprechen: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Du alter Kämpfer. Lass es bitte nie, niemals ruhiger angehen. Es würde etwas fehlen. Bleib einfach so lange es geht der Stachel im so elend abgesoffenem Feuilleton der Anständigen, die sich in ihren rosa Tütüs in Papierschiffchen um die Einfahrt in die letzten sicheren Häfen balgen. Alles Gute!

Dienstag, 4. März 2014

UKRAINE – Folgt der Konflikt einem bekannten Muster?


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Fangen wir zunächst mal mit drei subjektiven Wahrnehmungen an:

Eine Bekannte, die als Teenager aus der Ukraine übersiedelte, erzählt, das sie schon als Kind beim Schiffeversenken Russland gegen Ukraine spielte. Erklären wollte sie damit eine immer schon bestehende natürliche Rivalität zwischen den Ländern. Nächste Wahrnehmung ist ein Auftritt Gregor Gysis bei Günther Jauch, der eine erschreckende Naivität an den Tag legte, die man so von dem ansonsten durch fundierte Beiträge glänzenden ehemaligen Ostblock-Politiker nicht gewöhnt ist. Und die dritte Wahrnehmung ist so dämlich, das sie anonym bleiben darf, denn sie erzählt nur von einem Stammtischler der ungefragt kundtat, das nun mit einer wachsenden Zahl ukrainischer Prostituierter zu rechnen sei, von denen er gehört hätte, das die bei deutschen Freiern besonders beliebt seien.

Konzentrieren wir uns aber zunächst einmal auf diese vielbesprochene Günther Jauch-Sendung, denn die war für viele Zuschauer die an Informationen bisher reichhaltigste Quelle über einen undurchsichtigen Konflikt, der aktuell von zu vielen Lohnjournalisten leider unisono auf diese dilettantische Gregor-Gysi-Art-und-Weise besprochen wird.

Heimat misst sich an Bewohnern

Das fand scheinbar auch Patrick Bernau für die „Faz“, der sich immerhin ganz besonders intensiv über den „Grundkurs Ukraine“ seitens der jüngsten, aber kompetentesten Diskutantin, der deutschen Piratin ukrainischer Herkunft Marina Weisband, freute.

Für die eloquente Diplompsychologin sind Einmischungen von außen in den Konflikt nicht das Mittel der Wahl. Für die Idealistin – Jugend darf das! – muss die politische Erneuerung der Ukraine aus dem Volk heraus passieren. Damit war aber schon das erste ungelöste Problem auf der Tagesordnung. Denn da wo Weisband Volk sagt, meint sie wohl eher Staatsbürger. Die Ukraine ist knapp doppelt so groß wie Deutschland bei einer halb so großen Bevölkerungsanzahl. Dreiviertel der Bevölkerung sind wohl ethnisch Ukrainer, aber in der autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol sind russischstämmige Ukrainer die bei weitem bedeutendste Volksgruppe und sunnitische Krimtataren mit heute über zehn Prozent der Bevölkerung die zweitgrößte Minderheit. So gesehen wäre eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland oder der Ukraine wahrscheinlich von jeher reine Formsache pro Russland.

Das erinnert Historiker vielleicht an die Situation des Deutsche Reiches nach dem Versailler Vertrag, wo große Gebiete mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung nicht mehr zum Reich gehörten. Eine der vielen Lunten übrigens, die Hitler nach Belieben für sein großes zerstörerisches Feuerwerk entzündete. Die Lehren daraus sind bekannt und dauern bis heute an. Überall, wo es Machträume gibt, die ethnisch nicht den Machthabern folgen, wird ermordet, vertrieben und neu besiedelt. Ethnische Säuberungen sind seitdem mehr und mehr das Mittel der Wahl geworden, will man einen neuen Status Quo erzwingen. Heimat misst sich längst nur noch an Bewohnern, nicht mehr am angestammten Land.

Aber auch über Jahrzehnte bestehende ethnische Konflikte sind nicht die Hauptursache des aktuellen Konfliktes in der Ukraine. Hier muss mehr dahinter stecken. Und einiges verweist hier auf altbekannte Muster vergleichbarer Konflikte des 21.Jahrhunderts.

Perfekt aufgestellt für die internationalen Medien

Analog zum Kairoer Tahrir-Platz und zum Istanbuler Taksim-Platz haben wir in Kiew den Majdan. Die Keimzelle der Umwälzungen, der Demonstrationen, konzentrierte sich auch in der Ukraine nicht etwa auf eine unüberschaubare Region oder Landesteile, sondern medienkompatibel auf einen überschaubaren Platz in der Hauptstadt, der dann perfekt geeignet ist, weltweit den Eindruck zu hinterlassen, wir befänden uns mitten im Zentrum eines Volksaufstandes. Volle Straßen, urbane Verwerfungen mit auffälligem Militäraufgebot usw.

Alles perfekt aufgestellt für die internationalen Medien, die in den Metropolen sowieso bereits ihre Zentralen betreiben. Zeltlager, Bühnen und nächtliches Feuerwerk tun ihr Übriges. In diesem dichten Hexenkessel reichen Aktionen weniger Provokateure von beiden Seiten für eine maximale Außenwirkung. In so einer zentralistisch gesteuerten ehemaligen Sowjetrepublik ist der Effekt natürlich noch einmal größer.

Als nächstes folgt dann in altbekannter Manier die komplette Diskreditierung des Staatsoberhauptes zum Diktator, Machthaber oder Despoten. Wir erinnern uns, weil es dieser Tage es so schnell in Vergessenheit gerät: Der Präsident der orangenen Revolution, Wiktor Juschtschenko selbst schlug 2006 Janukowytsch als Ministerpräsidenten vor. Als Ministerpräsident sprach sich eben dieser Janukowytsch anfangs sogar für den EU-Beitritt der Ukraine aus und düpierte damit Russland. Bei vorgezogenen Wahlen 2007 gewann Julija Tymoschenko und 2010 wurde erneut Janukowytsch gewählt. Vor der Wahl Tymoschenkos drohte Russland damit, die als Gegenleistung für die ukrainischen Gasleitungen nach Europa subventionierten Gaspreise deutlich anzuheben. Immerhin 80 Prozent des russischen Gasexports die nach Europa fließen werden durch die Ukraine geleitet.

Aber weiter in der erkennbaren Methodik: Die Protzvilla des Despoten fehlt nun noch. Ein perfektes Instrument, um Neid und Abscheu zu erzeugen, wie man bei Gaddafi so medienwirksam bereits durchexerziert hatte. Das quasi gleich auf der anderen Straßenseite gegenüber Janukowytschs Villa weitere, noch protziger Villen der Oligarchenfamilien stehen sollen – wie Frau Weißband berichtete – interessierte die Medien kaum. Der Grund ist einfach: Die Türen waren verschlossen. Wozu also klingeln und um Filmaufnahmen bitten?

Jetzt fehlt nur noch der finale Moment

Nächster Akt dann die unter großem Jubel und Fahnenmeere organisierte Freilassung echter oder unechter prominenter politischer Gefangener – bis heute ist ja ungeklärt, ob und welche Wirtschaftsverbrechen Frau Tymoschenko tatsächlich begangen hat – oder wahlweise die Heimkehr eines Politikers aus dem Exil. Die intensive Arbeit oder Beratertätigkeit diverser ausländischer Geheimdienste setzen wir übrigens bei all diesen Umstur-Prozessen einfach mal voraus, ohne sie im Einzelnen investigieren zu wollen.

Jetzt fehlt nur noch der finale Moment, zunächst die Heraufbeschwörung einer Kriegs- oder besser Weltkriegsgefahr, dann zeitnah, wenn die internationalen Medien richtig in Brand geraten sind, der offizielle Hilferuf einer Übergangsregierung, die dann den Einsatz ausländischer Kräfte zumindest moralisch weitestgehend legitimiert. Und siehe da, Frau Tymoschenkos soll bereits aus ihrem Rollstuhl heraus einen Hilferuf gesandt haben. Der Weg scheint also frei für eine erneute Umverteilung von Staatseigentum unter Wenigen. Putin hat damit übrigens am wenigsten zu tun. Er ist in diesem Spiel nur widerwillig zum Buhmann geworden, weil er seine angestammten Interessen schützen will. Denn den Buhmann von außen braucht es ja immer.

Sicher annehmen darf man nun, das sich in fünf bis zehn Jahren neue Gesichter aus der Ukraine melden und vielleicht irgendwo in Europa einen Fußballverein kaufen und was sonst noch so gefällt und unverschämt teuer ist. Der Lebensstandard der Ukrainer wird dabei allerdings allenfalls stabil bleiben. Stabil niedrig.

Das freut dann allenfalls den anonymen Stammtischler und Gregor Gysi, der dann wieder sagen kann, er hätte ja eh schon immer gewusst, dass das nur zu Lasten der Ärmsten gehen kann. Was für ein Trauerspiel. Arme Ukraine.

Montag, 3. März 2014

Horst Mahler: Im Februar 2014 bereits fünf Jahre in Haft


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Diesen Februar vollendete Horst Mahler sein fünftes von zwölf Knastjahren. Vom erhofften Märtyrertum ist er weit entfernt. Er gerät sogar schon in Vergessenheit. Zeit, ihn endlich freizulassen.



Nachschlag für Häftling Nr. 746/09

Ich weiß ja, die Sache ist maximal unangenehm, aber man sollte trotzdem mal darüber sprechen. Eine der schillerndsten und auch düstersten Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Rechtsanwalt (heute ohne Zulassung) Horst Mahler, sitzt im Gefängnis und verbüßt dort eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen Volksverhetzung und anderer – nennen wir sie mal verharmlosend – verbaler Vergehen.

Und jetzt frage ich Sie vorab: Wie kann es so weit gekommen sein, dass wir es in Deutschland wieder für nötig erachten, einen alten Mann länger als ein Jahrzehnt wegzusperren, nur dafür, dass er etwas äußert, das wir für menschenverachtenden Schwachsinn halten, während das Internet mit exakt derselben Scheiße randvollgestopft ist, ohne dass wir wirklich etwas dagegen tun könnten? Wie viel Angst zeigen wir eigentlich damit vor solchen Geisteshaltungen? Was fürchten wir? Fürchten wir am Ende, dass das, was der alte Mann äußert, tatsächlich die Kraft und das Potenzial hätte, unsere Jugend oder sogar uns selbst zu vergiften? Haben wir heute wirklich so wenig Vertrauen, dass wir annehmen, dass ausgerechnet Mahlers Thesen geeignet wären, unsere demokratische Grundordnung auf eine Weise zu gefährden, die wir nur mit dauerhaftem Wegsperren beantworten können? Mit lebenslänglich? Was ist los mit uns, was fürchten wir eigentlich? Welches Detail dieses düsteren Paralleluniversums ist in der Lage, uns eine solche Angst einzujagen? Eine Schande für uns und unser demokratisches Selbstbewusstsein.

„Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will“

Horst Mahler wurde am 23. Januar 78 Jahre alt. Die unglaubliche Vita dieses Mannes ist den meisten in unterschiedlichen Details bekannt. Aber es gibt bis heute keine Biografie. Niemand wagt sich aus unterschiedlichsten Gründen an diese Mammut-Aufgabe.

Was das hohe Strafmaß für Mahler angeht, so bleibt bis heute fraglich, ob die Gesetzgebung tatsächlich mit einer solchen Hartnäckigkeit bzw. Unbelehrbarkeit gerechnet hatte, als sie den Paragrafen 130 StGB (Volksverhetzung) 1994 (Absatz 3: Einschränkung des Artikels 5 Absatz 1 Grundgesetz zur „Freien Meinungsäußerung“) und 2011 erweiterte bzw. verschärfte. Mahlers Strafmaß reicht an jenes heran, welches man sonst bei Totschlag und anderen Schwerverbrechen erwarten darf.

Zwölf Jahre wegen Volksverhetzung. Und anscheinend kann man für jede neue Volksverhetzung zusätzlich abgestraft werden. Die Sache summiert sich also. Für Horst Mahlers Hitlergruß, gerichtet an Michel Friedman in einem Interview, gab es dabei beispielsweise etliche Monate. Ebenso, wie für den Hitlergruß vor dem Gefängnis an ein paar rechtsradikale Zaungäste gerichtet. Die Liste ist lang. Und bizarrerweise wurde sie auch deshalb länger, weil Mahler dort, wo es keinen Kläger gab, Selbstanzeige erstattete und dazu vor Gericht äußerte: „Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will.“

Vom Landgericht München II gab es beispielsweise sechs Jahre Freiheitsstrafe, aus Potsdam fünf Jahre und vier Monate und aus Landshut noch mal zehn Monate Freiheitsstrafe, die sich alle im Prinzip auf §130 StGB stützen – insgesamt kam so besagter Freiheitsentzug von insgesamt zwölf Jahren zusammen. Aber welche ist nun die Strafzwecktheorie, mit der man mit gesundem Menschenverstand diese zwölf Jahre begründen könnte – zu denen übrigens noch weitere kommen könnten, wie wir gleich noch erfahren werden?

Was macht man mit so einem Mann?

Es geht beim Strafvollzug darum, dem Verurteilten Haftzeit zu geben, seine Taten zu reflektieren, also um Sühne, um Resozialisierung. Und auf der anderen Seite geht es um Abschreckung und Vergeltung. Also um so etwas wie Schuldausgleich. Paragraf 46 I Satz 1 StGB besagt dabei in etwa, dass die festgestellte Schuld Grundlage für die Zumessung der Strafe sein soll. Aber was nun tun, wenn Strafe ihre Wirkung komplett verfehlt?

Ein pikanter Fall in dem Zusammenhang war der des ehemaligen „Spiegel“-Journalisten Fritjof Meyer, der journalistisch wohl so etwas wie eine Relativierung des Holocaust vornahm, dafür ausgerechnet von Horst Mahler, natürlich aus naheliegenden Beweggründen, angezeigt wurde, und straffrei davonkam mit der Begründung, Meyer würde „die Barbarei nicht relativiere(n), sondern verifiziere(n)“.

Nun relativiert Mahler nicht nur, er streitet sogar kategorisch ab. Was macht man verdammt noch mal mit so einem Mann? Horst Mahler war zudem befreundet mit einer Reihe hochrangiger ehemaliger deutscher Politiker: Seine anwaltlichen Leistungen haben die Selbstauffassung des gesamten Anwaltstandes über Jahrzehnte hinaus nachhaltig geprägt. Der Mann hat sich also tatsächlich einmal für die freiheitliche Grundordnung verdient gemacht. Da steht er mindestens in einer Reihe mit Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Klaus Croissant.

Anwälte wie der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder waren sicher auch deshalb mit Horst Mahler per Du. Aus Respekt. Schröder war es sogar, der vor Gericht die zwischenzeitliche Wiederzulassung Mahlers als Anwalt erstritt. Ex-Freund Otto Schily brachte ihm Hegels gesammelte Werke in den Knast, als Mahler noch als Linksterrorist einsaß, später standen sich beide im NPD-Verbotsverfahren gegenüber. Mahler als Anwalt der NPD, Schily als Innenminister. Mahler entschied das Duell für sich.

Dieser merkwürdig spröde Interview-Dokumentarfilm „Die Anwälte“ führte Ströbele, Schily und Mahler noch einmal zusammen, ohne dass sie dabei direkt aufeinandertrafen. Auch hier blieb ein schaler Eindruck zurück. Ausgerechnet der düsterste der drei, Horst Mahler, machte den aufgewecktesten, den offensten, den hellsten, ja, fast sogar den sympathischsten Eindruck.

Dem exzellenten Journalisten Malte Herwig, der das Talent besitzt, mit schlafwandlerischer Sicherheit und sprachlicher Raffinesse Stimmungen und Fakten miteinander in Einklang zu bringen, kommt das Verdienst zu, in Sachen Mahler ein tieferes Verständnis für dieses Gemengelage aus Links und Rechts, aus RAF und nationaler Verwirrung ein stückweit aufzudröseln. Herwigs Kunststück besteht auch darin, selbst nicht in die Schusslinie zu geraten und das, obwohl er nicht die fast schon standardisierten Psychologisierungs- und Pathologisierungsklischees im Umgang mit Rechtsradikalen bedient. Sein Artikel in der „Zeit“ über einen Besuch in der JVA bei Mahler ist Pflichtlektüre, will man sich diesem unappetitlichen Fall annähern.

Horst Mahler ist jetzt ein politischer Gefangener

Bleiben wir kurz noch bei Mahler in der JVA. Denn ausgerechnet dort gelang es Mahler, ein Buch zu schreiben, das wohl inhaltlich geeignet ist, alle seine gesammelten Straftaten, für die er derzeit einsitzt, noch einmal zusammenzufassen. Das führte zu so seltsamen Erkenntnissen wie die des Richters Andreas Dielitz vom Landgericht Potsdam, der den Computer selbst als Mahlers eigentliches Tatwerkzeug identifizierte: „Das ist so, als ob man einem Einbrecher Einbruchswerkzeug zur Verfügung stellen würde“, sagte der Jurist. Was ja im Umkehrschluss hieße, dass Mahler auch nach seiner Haftentlassung striktes Computerverbot bekommen müsste. Will man ihm zusätzlich noch die Bleistifte verbieten? Also alles, was irgendwie in der Lage wäre, Gedanken festzuhalten? Was kommt, wenn auch das versagt? Elektroschocks, um den falschen Gedanken endgültig den Garaus zu machen?

Aktuell ermittelt die Cottbuser Staatsanwaltschaft nun wegen dieses Buches und des erneuten Verdachts der Volksverhetzung gegen den Inhaftierten. Zu den zwölf Jahren können also tatsächlich noch weitere hinzukommen. Wie weit lässt sich so etwas betreiben? Kann man in Deutschland mit „verbaler Geschicklichkeit“ über 100 Jahre sammeln, selbst dann noch, wenn man bereits 78 Jahre alt ist?

Horst Mahler ist jetzt ohne Zweifel ein politischer Gefangener, wo er in Freiheit nur ein verwirrter böser Mann sein konnte. Und das war, was er immer schon sein wollte! Und was könnte dieser Horst Mahler in Freiheit Schlimmeres verzapfen, als das, was ihm ja bereits während der Haftzeit mit einem Buch besser gelungen scheint als in relativer Freiheit? Das lehrt im Übrigen auch die gesamte RAF-Geschichte: Die größte Wirkung erzielten die RAF-Kämpfer während ihrer Haftzeit. In diesen Jahren wurden die nächsten Generationen akkreditiert.

Lassen wir Horst Mahler also jetzt endlich frei, wenn das irgendwie möglich ist. Denn Freiheit für Horst Mahler bedeutet für unsere Gesellschaft außerdem, einem 78-jährigen Mann, der damit die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bereits um ein Jahr überschritten hat, noch ein paar Momente dessen genießen zu lassen, was wir anderen ein gutes Leben nennen, und was diesem Menschen offensichtlich so gut wie nichts mehr bedeutet. Strafe hat im Falle Mahlers keinen Sinn mehr.

Und was soll dieser Mann heute noch mit seinen Äußerungen anrichten? Was verdammt noch mal haben wir zu befürchten? Dass er in unser Hirn kriecht mit seinen Ideen? Was für ein Armutszeugnis wäre das für uns? Zumal es heute keine noch so krude, unverständliche, strafbare oder kranke Aussage gibt, die im Netz nicht jedem zu jeder Zeit zur Verfügung stände. Und unter engster Bewachung des Verfassungsschutzes würde man Horst Mahler sowieso stellen, auch dann, wenn er bereits morgen aus dem Gefängnis entlassen werden würde. Empfindliche Einschränkungen, die ihm jede größere Plattform versagen, wurden bereits erfolgreich durchexerziert, so wie einst das Reiseverbot nach Auschwitz oder zur antisemitischen Teherankonferenz.

Horst Mahler, lassen Sie nun endlich ab

Tun wir uns den Gefallen. Lassen wir den Mann endlich frei. Ein juristischer Weg dafür wird sich finden. Auch ein Horst Mahler kann doch nicht immun dagegen sein, noch einmal über eine Blumenwiese zu laufen, ein Kind lächeln zu sehen, ohne diesem Kind gleich den Hitlergruß zeigen zu müssen, oder einen Sonnenuntergang friedlich beizuwohnen, ohne darüber zu schwadronieren: „Uns geht die Sonne nicht unter!“

Horst Mahler, lassen Sie nun endlich ab. Sie haben doch alles gesagt. Alles ist doch bereits für immer im Netz und anderswo aufgeschrieben. Und vertrauen Sie auf die Jugend, die wird’s schon machen. Und wenn nicht in Ihrem Sinne, dann ist das eben so. Jede Sache hat nun mal ihre Zeit.

Peter O. Chotjewitz, der am 14. Juni 80 geworden wäre, sagte einmal über Sie: „(Er hat) das Amt der Verteidigung mutig, selbstlos, bis weit in den politischen Diskurs hinein ausgeübt. Also höchstes Lob.“ Belassen wir es dabei. Überlassen wir den ganzen Rest doch nun einfach einer zukünftigen Mahler-Rezeption nachfolgender Generationen und genießen Sie das bisschen Leben, das Ihnen hoffentlich noch bleibt. Es lebt sich gut in Deutschland. Sie haben für Ihre verschiedenen Überzeugungen mehr gesagt und getan als ein einzelner Mann normalerweise erledigen kann. Nun lassen Sie es gut sein. Wenn schon nicht für Ihren inneren Frieden, dann eben für unseren.

Samstag, 22. Februar 2014

Eintracht Braunschweig – Zen, die Kunst zu verlieren.


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TO BE OR EINTRACHT BRAUNSCHWEIG

Braunschweiger sein, dass ist, mindestens in Sachen Fußball, ein Fall größtmöglicher gemeinschaftlicher Leidensfähigkeit. Denn kann man eigentlich noch brutal schöner verlieren als diese sensationell tragischen Helden aus Niedersachsens Fußballhauptstadt am Samstag in Nürnberg im wahrscheinlich entscheidenden Spiel um den Klassenerhalt der Saison 2013/14?

Wohl noch nie in der Bundesliga hat ein Abstiegskandidat die wohl wichtigsten Punkte der laufenden Saison so spektakulär an einen ebenfalls akut abstiegsgefährdeten Gegner abgeben müssen. Die Sache ist schnell aber natürlich nur unter Bauchschmerzen erzählt: Braunschweigs wiedererstarkter Domi Kumbela "Torfabrik" machte zunächst nahtlos da weiter, wo er in der vergangenen Woche mit einem furiosen Eilzug zum HSV-Tor (Einsatz zweite HZ, 3 Kumbela-Tore) aufgehört hatte: 34. Minute Ecke, Kumbela, 1:0 für die Eintracht. Braunschweig aus dem Häuschen. Und noch besser: Zu dem Zeitpunkt spielte der Club bereits nach einem Foul in der 32 Minute mit einem Mann weniger.

Der Schicksalsmoment für die Eintracht kann dann ziemlich genau auf die 41. Minute festgelegt werden. Foul an Kumbela im Strafraum durch Torwart Schäfer, der eigentlich zusätzlich zum Elfer noch die rote Karte hätte bekommen müssen, aber unverdienterweise mit einer Gelben im Kasten verbleiben durfte. Also Jubel, also Elfer, also Kumbela. Und Nürnbergs Schäfer hält. Genauer: held. Die Franken nun ihrerseits aus dem Häuschen. Eine Initialzündung die die verbleibenden zehn Nürnberger zusammenschweißt? Nein, denn zunächst unterbricht der Abpfiff solche Gedanken. Halbzeit.

Und im zweiten Durchgang passierte, was nun mal passieren muss, wenn man mit maximaler Bewaffnung zurück auf dem Rasen einem zwar verunsicherten, aber brandgefährlich angeschlagenem Gegner gegenübersteht. Diese "Magie der Zehn", die bis heute noch niemand schlüssig erklären konnte, nahm seinen für Braunschweig verhängnisvollen Lauf.

Also elf Braunschweiger, von denen zunächst wohl jeder der zehn Feldspieler davon überzeugt schien, genau jener frei spielende Mann zu sein, der sich nun nicht mehr einen Gegenüber zuordnen braucht. Also Null Zuordnung und dann irgendwas um 13 Sekunden nach dem Anpfiff 1:1 und eine Minute später noch das 2:1 für Nürnberg. Dabei blieb es dann. Aus. Schluss. Vorbei.

Ach so, in diesen längsten verbleibenden 43 Minuten für Braunschweig fielen noch zwei Elfmeter. Einer auf der rechten einer auf der linken Spielfeldseite. Auch beide verschossen, also in der Partie drei verschossene Elfmeter – Rekord in der Bundesliga seit Bestehen.

Und Rekordbegeisterung in Nürnberg. Mehr als über den Sieg an sich noch über dieses gigantische Ringen. Ohne Braunschweig unmöglich! Denn nur Braunschweig hat den Spirit für solche Spiele. Nur leider ebenso oft für sich selbst, wie als Geschenk für den Gegner.

Was das nun alles bedeutet? Zumindest so viel, das, wer so ein Spiel auf so tragische Weise abgibt, eigentlich auch alle Chancen haben müsste, jedes weitere Spiel auch auf glücklichste Weise für sich zu entscheiden.

Eintracht Braunschweig hat als einzige Bundesliga-Mannschaft dieses manisch-depressive Grenzgänger-Abo, das am Ende auf wahrscheinlich herzanfallverdächtige Weise für den Klassenerhalt via Relegationsspiel sorgen wird.

Der leidensfähigste aller Bundesliga-Trainer mit dem größtmöglichen Rückhalt in seiner Stadt hätte es jedenfalls mindestens ebenso verdient, wie diese Ausnahme-Spieler und ihre völlig fußballverrückten Ausnahme-Fans in Blau-Gelb.

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