SUBWAY KOLUMNE FÜR MÄRZ 2011
Ja doch, ich weiß es ja selbst – eine Kolumne droht dann zu kippen, wenn der Kolumnist nicht mehr aufhören kann, über seine Kinder und Krankheiten zu schreiben. So gesehen hätte ich mir längst einen festen Schreibplatz in der Örtlichen verdient.
Also: In den vergangenen Jahren habe ich nicht weniger als neun Mal über meine Gebrechen berichtet. Von einer Nahtoderfahrung mit einem Rosinenbrötchen, über die Entdeckung der Prostata bis nach noch weiter hinten. Ja doch, der Rücken würde noch etliche Seiten füllen, wenn es nur nicht immer so persönlich wäre.
Also verspreche ich jetzt, dass die nun folgende Rücksichtnahme aber wirklich das Allerletzte sein wird. Nicht als Hilfe zur Selbsthilfe, sondern als finale Warnung. Und die beginnt an einem frostigen Morgen am Braunschweiger Hagenmarkt auf der Suche nach diesem ominösen Rückenheiler, der so ähnlich klingt, wie der ehemalige Bundeskanzler, der jetzt russisches Gas verkauft.
Die Sonne scheint kalt. Hagenmarkt Ecke Casparistraße beobachte ich die Schlachterfräuleins beim Mettaufhäufeln. Schöne Farben. Ton in Ton zu den engen rosaroten Kitteln. Gegenüber logieren Liebesdienerin. Das weiß ich aus Inseraten. Man erkennt es bei genauerem Hinsehen an den blickdichten roten Vorhängen in den oberen Stockwerken. Angeblich soll es dort auch einen Hinterhofbetrieb mit weiteren Damen geben.
Da der Wunderheiler auch auf einem Hinterhof zu finden sein soll, wird mir ein wenig bange. Aber ich habe Glück, denn der Rückenbrecher arbeitet direkt vis-a-vis der Fleischhaufen. Und es gehört sicher abends noch mehr Mut dazu, ihn zu besuchen, als für einen Vegetarier am Morgen diese öffentlichen rosa Fleischgelüste zu bestaunen.
Warum? Die kleine Gasse die sich Richtung Praxis auftut ist so eng und düster und die Eingangstür zum Knochenverdreher so rammschig, das ich mir sicher bin, nach 19 Uhr, wenn die Laternen ausgehen, gehört dieser Ort zu jenen Braunschweiger Orten mit höchster Kriminalitätsrate. Egal, also rein.
Neben mir drängt sich eine Alte mit Krücken in den engen Lift. Uns beiden ist klar: Wer zu erst oben rauskommt, der wird auch zuerst durchgeschüttelt. Ob die Dame schon mal hier gewesen ist? Ist etwas schief gegangen?
Viel, viel später werde ich mich an sie erinnern, als ich in fadenscheiniger Unterhose eine Erklärung unterschreiben muss, dass der Doktor nicht schuld ist, wenn etwas schiefgeht. Aber gut, die Praxis ist zunächst das Gegenteil des Praxiseingangs. Großräumiger Empfangsraum. Hektische Betriebsamkeit.
´Der Ton des Personals ist süffisant-burschikos. In die Jahre gekommene Attraktivität von Gleichgültigkeit gezeichnet. Ich denke mir noch nichts dabei. Wird wohl bei den ganzen Verkrümmten so eine Art Abwehrhaltung sein. Also sitze ich geschlagene Zweieinhalbstunden in einem rammelvollen viel zu engen Wartezimmer und rutsche, wie alle anderen hier, von einer Arschbacke auf die andere.
Mit Rücken ist nicht gut sitzen. Als ich dann doch noch meinen Namen aus dem Lautsprecher knistern höre, springe ich auf, was ich besser nicht hätte tun sollen. Aber auch schon egal, ich bin ja nun dort, wo so viele andere hin wollen, die aber nicht die Geduld mitbringen monatelang auf einen Termin zu warten.
Der dauert dann exakt fünf Minuten und besteht darin, das ich mich fast komplett ausziehen muss, während mich so ein junger Kerl auf seine Frottee-rosa bespannte Liege schmeißt, sich dann so obendrauf, als wären auch hier rote Gardinen an den Fenstern. Nach dieser hochmerkwürdigen und schmerzvollen Grundschulbalgerei samt übler Knackgeräusche erklärt das wilde Bürschchen über mir, das nun alles wieder gut sei und ich getrost nach Hause gehen könne – das Problem wäre behoben und die Bandscheibe könne drin bleiben.
Das war alles? Zurück auf dem Hagenmarkt mache ich zwei unvorsichtige Schritte, und schon fährt es mir wieder gewohnt messerscharf ins Kreuz. Und dafür hat die Kasse nun mehr bezahlt, als die Liebesdienerinnen gegenüber für so eine läppische Fünf-Minuten-Massage verlangen würden.
Denn die massieren laut Inserat für eine volle Stunde body-to-body und sind dabei auch noch völlig nackt! Und ich bezweifle, das man dort monatelang auf einen Termin warten oder stundenlang unbequem vorsitzen muss, bis man endlich Erleichterung findet.
Fazit: Ein Hinterhof bleibt immer Hinterhof. Ob nun mit oder ohne rote Gardinen. Und während ich mich in Trippelschritten vorwärtspirsche, winkt die Schlachtereifachverkäuferin mitleidig mit einem Mettklümpchen herüber und das kostet dort auf Brötchenhälfte mit Zwiebelringen obendrauf 1,40 Euro. Eine gute Investition. Und die ist am Hagenmarkt offensichtlich zur Seltenheit verkommen.
Au weia. Ja, das ist so ein Thema. Da traut sich keiner ran. Schon die Auswahl des Themas schafft Unruhe. Oder wie die Frankfurter Rundschau heute aus dem gerade veröffentlichten Bericht des „unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ zitierte: „Angesichts moderner Kommunikationswege wie dem Internet sei die Verbreitung dieses Gedankengutes kaum zu unterbinden. Dadurch gerate die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus in Gefahr, wie sie bisher Konsens in der deutschen Öffentlichkeit gewesen sei.“
Das Tabu ist also Konsens. Nicht die gesellschaftliche Ächtung. Oder ist das schon dasselbe? Egal – denn wer würde da Widerspruch einlegen wollen? Jedenfalls niemand den ich kenne. Weit kniffliger wird es innerhalb so eines Tabus allerdings in der Beurteilung, was denn nun Antisemitismus sei und in wie weit der unter Deutschen nun verbreitet oder eben nicht verbreitet ist. Eine „unabhängige Expertengruppe“ wurde also 2008/9 von der Bundesregierung beauftragt, mal zu schauen, was der Sachstand ist in Deutschland. Das Ergebnis liegt jetzt 2012 vor.
Zunächst mal zu den Experten. Da sind der Mitbegrunder und Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, ein Islamwissenschaftler, eine Mitarbeiterin der Bildungsabteilung im Haus der Wannseekonferenz, der erste Prorektor und Leiter der Hochschule fur Judische Studien, ein prof. des „Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History“, ein Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fachhochschule des Bundes, der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums fur europäisch-judische Studien, der Senior Research Fellow bei der "European Foundation for Democracy" in Brussel, eine wissenschaftliche Angestellte am Zentrum fur Antisemitismusforschung und eine freie Mitarbeiterin "Expertenkreis Antisemitismus".
Zum Ergebnis der Studie: Man stellt dort fest, das 20% der deutschen Bevölkerung „latent“ antisemitisch sind. Peter Longerich – einer der Experten – dazu: Die neue Form des Antisemitismus äußere sich nicht zwingend in Taten, sondern sei „in den Einstellungen vorhanden." Ist das nun beruhigend oder beunruhigend? Gedankenpolizei oder Aufruf an eine aufmerksame Zivilcourage-Gesellschaft?
Aber weiter bei Longerich: Es handele sich dabei jedoch nicht um ein gesellschaftliches „Randphänomen“. Beispielsweise seien rassistische, rechtsextreme und antisemitische Parolen auch weiterhin auf deutschen Fußballplätzen an der Tagesordnung.
Erstes Veto: Und mal ehrlich, wer die Sache ernst nimmt, denn ärgern solche Ungenauigkeiten bei so einem wichtigen Thema. Denn es ist ebenso klar, dass nicht der fußballschauende Familienvater mit seinen Kindern antisemitische Parolen gröllt, sondern es sind – wenn es passiert – eben im Stadion wie auf der Straße die rechten extremen Randgruppen. Wer etwas anders behaupten will, der sollte das genauestens belegen. Von den rechten Hooligans und Nazis in den einschlägigen Blocks der Stadien auf die Mitte der Gesellschaft zu zielen ist unredlich.
Und passt dann eben auch nicht mit der nächsten Feststellung zusammen, die da sagt: „Rund 90 Prozent der antisemitischen Straftaten seien rechtsextremen Tätern zuzuordnen.“ Die Frankfurter Rundschau weiter: „In der deutschen Gesellschaft seien antisemitische Einstellungen in erheblichem Umfang vorhanden und zwar in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen, heißt es in dem Bericht.“
Tja, was soll man damit anfangen? Interessanter ist da schon die Feststellung der Experten, dass sich als neuer Träger von Antisemitismus dem Bericht zufolge mittlerweile auch der Islamismus erweise. Wie stark der Antisemitismus allerdings auch bei muslimischen Deutschen verankert ist, müsse noch untersucht werden.
Wenn man so will, ist hier also die These angelegt, das mit wachsender Zahl Deutscher mit muslimem Hintergrund womöglich auch der Antisemitismus ansteigen könnte. Untersuchungen auf deutschen Schulhöfen scheinen das zu bestätigen, wie Freia Peters schon 2009 für die ZEIT berichtete: „Viele junge Muslime haben mit Juden ein Problem (...)Experten bezweifeln zwar, dass viele junge Muslime hierzulande eingefleischte Judenhasser sind. Doch der latente Antisemitismus ist weit verbreitet.“
"Latenz" bleibt 2012 das bestimmende Stichwort: Wieder Frankfurter Rundschau von heute: „Der Begriff „latent“ weist darauf hin, dass sich der Antisemitismus nicht zwingend in Taten äußert, sondern in Einstellungen der Menschen vorhanden ist.“
Man bleibt also etwas ratlos zurück. Noch ratloser, wenn man Antisemitismus im eigenen Umfeld überhaupt nicht beobachtet. Und dafür nicht einmal ein Tabu verantwortlich machen kann. Die allermeisten von uns könnten sogar sagen, Antisemitismus ist im Alltag kein Thema.
Eines allerdings fehlt scheinbar in der Studie. Zumindest gibt die mediale Berichterstattung keinen Aufschluss. Vielleicht liegt es daran, das es sich bei dem folgenden Problem tatsächlich um ein internationales und nicht um ein rein deutsches Phänomen handelt: Nämlich die Frage, wie viele Menschen im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise „latent“ antisemitistisch denken bzw. sich sogar äußern oder zu einem neuen Antisemitismus gefunden haben.
Es scheint tatsächlich eine Tabuaufweichung zu geben, die im ersten Schritt Banken wie Goldman Sachs und Co als Verursacher der Finanzkrise sehen und im zweiten Schritt eben daraus einen neuen Antisemitismus entwickeln. Also quasi eine Reaktivierung des „Internationalen Finanzjudentum“ der Nationalsozialisten. Dazu gibt es keine Untersuchungen.
Aber eben da findet sich ein erschreckender
20%-plus-X-Konsens, der wenig bis gar nichts mit ein paar Idioten auf dem Fußballplatz oder Schulhof zu tun hat. Aber klar: Die weitaus gefährlichere Brand-Konstruktion: – finanzkrise, juden, goldmannsachs – bekommt niemand hin von den Fußball-Antisemiten. Antisemiten sind die Bildungsfernen. Zumindest scheint das bisher noch eine tröstliche Behauptung. Und wenn Bildung nun automatisch Antisemitismus-steigernd wäre, au weia – dann wird es wirklich düster.
„Die Ähnlichkeit und Gleichmacherei sind das Merkmal schwacher Augen.“ Nietzsche
Die WELT hat einmal behauptet: „Die Deutschen sind ein Haufen Individualisten!“ Auf der gegenüberliegenden Seite leben die Kollektivisten. Und die bekommen im word-Schreibprogramm die rote Welle. Ungeschrieben, ungebraucht, also falsch.
Aber was wäre, wenn die WELT irrt und die Deutschen ein Haufen von Kollektivisten sind?
Vieles spricht sogar dafür. Individualismus in Deutschland in seiner erlebbaren Ausprägung unterstützt die These.
Warum? Weil er kein individuelles System von Werten und Normen formuliert. Individualität markiert heute viel mehr Schrulligkeiten oder exotisch-dekorative Verhaltensweisen. Nicht der Konflikt oder die Auseinandersetzung zeichnet diese Individualität aus, sondern die besetzte Nische.
Individualität ist „E-Zigarette rauchen“ oder „vegan leben“. Oder im anderen Extrem: Ganzjähriges Garten-Kampfgrillen und die konsequente Verweigerung Müll zu trennen, als wäre es Brandzeichen eines Kollektivismus, seine Joghurtbecher im gelben Säckchen zu entsorgen. Aber das alles hat ja mit Individualität nichts zu tun.
Individualität ist nur mehr zur gesellschaftlichen Pflichtaufgabe verkommen.
Und das beginnt schon bei der Erziehung der Jüngsten: In modernen integrierten Gesamtschulen beispielsweise hat das Augenmerk auf individuelle Entwicklung den höchsten Stellenwert. Das geht so weit, das sogar soziale Kompetenz, also ein zutiefst kollektivistisches Merkmal Teil der Individualerziehung geworden ist.
Aber es kann ja nicht sein, das sich Individualität am Maß der Anpassung misst. Das ist blanker Unsinn mit Folgen: Alberner Surrogat-Individualismus in allen erdenklichen und unerdenklichen Daseins-Formen spricht eine entlarvende Sprache. Und so entlarvend, so unkonkret ist das Bild.
Klar, jetzt könnte man eifrig behaupten: Facebook und Co sind schuld! Und wer würde widersprechen, wenn man im permanenten Abgleich mit „Freunden“, also „Gleichgesinnten“ den Feind des Individualismus identifiziert. Aber die Sache sitzt ja tiefer.
Aktuell habe ich Christiane Pauls „Das Leben ist eine Ökö-Baustelle“ auf dem Tisch. Man könnte meinen, die erfolgreiche deutsche Schauspielerin verkörpere schon alleine ihres Erfolges und ihrer prädestinierten Tätigkeit wegen Individualität. Was also bitte mag Sie veranlasst haben, immerhin zusammen mit Peter Unfried das weibliche Pendant zu Unfrieds „Öko“ zu schrieben?
Hier wird doch auf klarste Weise sichtbar, auf welche Weise sogar unsere Vorzeige-Individualisten von einer Sehnsucht nach Kollektivismus beseelt werden. Und damit sich dieser Verdacht gar nicht erst erhärtet, steht dann in dicken Lettern auf dem Buchrücken: „Man darf nicht alles hinnehmen, wie es ist!“
Aber wie viel Leitbild, Anecken und Protest steckt überhaupt in der Ökofibel, von deren Cover die Schöne so hinreißend spitzbübig lächelt? Tatsächlich heißt es dann auch im Vorwort: „Was mich um- und antreibt (...) hat (...) damit zu tun, das ich mich als Teil unserer Gesellschaft fühle, eine Wohlstandgesellschaft, in der ich Verantwortung übernehmen möchte.“
Ha! Wer bitte möchte da entscheiden, ob das nun ein Anflug von Individualismus oder eine kollektivistische Äußerung ist?
Aber es macht klarer, um was es geht: Wahrer Individualismus verlangt ein abgegrenztes Weltbild. Ein von eigenen Normen und Werten geprägtes Lebensmodell. Oder noch einfacher: Eine klare Positionierung, die alles sein kann. Aber eines nie darf: den Abgleich suchen mit Gegebenheiten. Mit dem Möglichen. Dem Machbaren. Was natürlich nicht heißt, das Individualität den gesellschaftlichen Konsens auf Teufel komm raus verweigern muss. Aber sie sollte nicht jedes Mal manisch mit ihm ins Bett steigen.
Mein Freund Ingo Niermann sagt dazu:
"Alexander, was du als Pseudo-Individualität beschreibst, ist ganz einfach das bürgerlich-christliche Verständnis von "Individualität": aus innerem Antrieb heraus zum gleichen Ergebnis zu kommen. 2+2 ist ja auch für alle 4. "Individuell" ist dagegen, wenn du an deine 2 noch ein Kringelchen dranhängst."
Und hier das Buch von Christiane Paul und Peter Unfried:
http://www.amazon.de/Das-Leben-ist-eine-%C3%96ko-Baustelle/dp/3453280210/ref=sr_1_cc_1?s=aps&ie=UTF8&qid=1327148915&sr=1-1-catcorr
Deutschland-Trilogie Teil III
Die dringende Frage nach der Wulff-Debatte heißt nicht, welches Deutschland wir wollen, sondern ob wir Deutschland überhaupt noch wollen und was die Alternative wäre.
Ja doch, das klingt zunächst wie Hammer auf Amboss, taugt aber zur sinnvollen Zusammenfassung eines kompliziert gehaltenen Problems. Und ist die Frage erst einmal heraus, sehen die Reaktionen nicht selten so aus als hätte man mit der Frage nach Deutschland die Büchse der Pandora geöffnet.
Trainiert an Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ bricht ein Geschrei los, als wäre das personifizierte Böses thematisiert. Wenn aber schon die Frage nach Deutschland allein für viele revanchistisch klingt, erzählt das mehr als eine schuldig gebliebene Antwort. Die Aussage „Ich bin Deutsche/-r“ klingt wie verkopfte Gesinnung und nicht wie emotionale Zugehörigkeit.
Die wohl häufigste Antwort auf die Frage, was bedeutet Dir eigentlich Deutschland, lautet heute: „Das ist mir nicht so wichtig.“ Gerne nachgelegt wird: „Was soll eigentlich dieses ständige Palavern über Deutschland?“
Selbst dann, wenn man gemütlich beim Essen sitzt und eigentlich über alles und nichts gesprochen hat, nur nicht über Deutschland. Deutschland ist also kein Thema. Und die Abwehr einer Auseinandersetzung wird vielen zur Prophylaxe wie die Betonung der Gleichgültigkeit zur Litanei wird.
Wäre da nicht bloß immer diese Unwucht zu spüren. Diese Sehnsucht nach Lässigkeit im Umgang mit Nation und Zugehörigkeit. Die Büchse der Pandora ist ja in Wirklichkeit ein Gordischer Knoten. Also nochmal die Frage: Was bedeutet Ihnen Deutschland? „Nichts“ kratzt an der Zweidrittelmehrheit. Das bedarf kaum einer seriösen Umfrage, da reicht schon der Lackmustest im Großraumbüro.
Viel erstaunlicher an diesem „Nichts“ ist übrigens die allgemeine Zustimmung, die eine fehlende gesellschaftliche Ächtung dieses „Nichts“ komplett ersetzt hat.
Die Ersatzfrage nach einem "Zugehörigkeitsgefühl" wird da schon mit größerem Interesse weiterverfolgt. Generell kann man dann zunächst feststellen, dass sich die Intensität von Zugehörigkeit proportional zum Sinken der umgebenden Quadratkilometerzahl verhält.
Erstaunlich ist die Tatsache, dass Globalisierung, Internet und Social Media – kurz das weit geöffnete Fenster zur Welt und zu den Menschen in dieser Welt – daran überhaupt nichts geändert haben. Die eigene Wohnung, die Straße, der Ort, in dem man lebt, sind unabhängig von einem völlig neuen Weltverständnis Hort der Geborgenheit geblieben. Allerdings einer, der sich schamvoll einem Bekenntnis entzieht.
Heimat wird ganz augenscheinlich unabhängig von politischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen wahrgenommen, gefühlt, gelitten. Hat aber heute den Status von etwas fast Pornografischem. Oder milder: Wie eine Zärtlichkeit, die in der Öffentlichkeit verpönt ist. Sicher liegt das auch daran, das es scheinbar so etwas wie eine räumliche Begrenzung für Heimatgefühle gibt.
Dabei ist Heimat nie Staat oder Land. Liegt es schlicht daran, das die deutsche Kriegserfahrung bei Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen eine Erfahrung hinterlassen hat, die heute Teil einer gesamtdeutschen oder gar europäischen Befindlichkeit geworden ist? Im Sinne von: Der Staat führt Kriege, die Heimat vernichten. Ergo sind Staat und Heimat nicht identisch?
Oder näher am Menschen: Die Großmutter, die auch auf Besuch nie mehr nach Ostpreußen zurück wollte, hat das so einfach begründet: „Heimat – das sind die Menschen. Die Landschaft allein reicht dafür nicht.“
Die Antwort auf die Frage, was uns Deutschland bedeutet, muss demnach letztlich eine intellektuell zu beantwortende Frage sein. Und es ist also zunächst überhaupt kein Beinbruch, sie auf der emotionalen Ebene mit „Nichts“ zu beantworten. Denn die Überlegung, welches Deutschland wir wollen, verlangt eine komplizierte und in der deutschen Geschichte möglicherweise zu oft überstrapazierte Entscheidungsfindung.
Heimatgefühle sind also eher emotionaler Natur. Die Sicherung der Heimat in einem übergeordneten Staatengebilde ist dem folgend nicht automatisch mit einer Liebe zu diesem künstlichen Schutzgebilde verbunden. Eigentlich sogar im Gegenteil. Die Liebe zu Staat und Vaterland ist bereits eine verkopfte, die wunderbar, aber eben manchmal auch ganz furchtbar sein kann.
Da, wo man sich nicht erklären muß.“
Johann Gottfried von Herder
Jonathan Widder - „Deutsch in 'Kaltland“ in der FAS, 15. Jan.2012
Eine Erwiderung
Deutschland-Trilogie Teil II
Jonathan Widders Essay-Auszug in der aktuellen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mag nach dem ersten Lesen wie ein altvertrautes Feuilleton- Deutschland-Bashing klingen. Aber in Wahrheit ist es eine wunderbare Sehnsucht nach einem Deutschland geworden, das so bedingungslos Heimat sein soll, aber sich diesem kindlich-naiven Sehnen des Autors beharrlich widersetzt.
Leider hat es Widder als solches noch nicht erkannt. Denn das könnte ihm - und auch ein stückweit seinen Lesern - vieles einfacher machen.
Worum gehts? Jonathan Widder ist Herkunftsdeutscher, der sich zunächst mal freut, dass er so viele Freunde in in Osteuropa hat, denen er längere, sogar monatelange Besuche macht und dem aber regelmäßig auf dem Weg zurück nach Deutschland grauselt.
So weit, so gut, dass geht auch hunderttausenden Volkswagen-Mitarbeitern und deren Familien im Rückflieger so, wenn sie ihre jährliche Sommerfernreise beenden müssen, weil die Werksferien nunmal unwiederbringlich zu Ende sind und der Alltag am Fließband wieder beginnt. Normalerweise hält so ein Leidenszustand dann zwei, drei Tage, aber das erträgt der VW-ler stoisch, bis ihn der gewohnte Alltag wieder hat, wie es gemeinhin heißt.
Aber bei einem Schöngeist wie Jonathan W. sitzt der Schmerz natürlich tiefer. Alles andere wäre ja auch zu gewöhnlich. Der Gute Jonathan sitzt also im Zug genauer in einem aus der Ukraine und leidet feuilltonistisch-überproportional: Das näherrückende Deutschland macht, das es sich bei ihm anfühlt, als würde ihm „ein spitzer Haken in den Kopf gehackt, direkt ins Gehirn.“ (Das steht da wirklich Wort für Wort!)
Und wüsste man es nach wenigen Zeilen nicht besser, man würde meinen, da berichtete ein abgeschobener Asylbewerber, der mit seinen tatsächlichen Ängsten kämpft, die ihm in seiner alten Heimat Übles erwarten lassen. Und weil Jonathan oft verreist, musste er sich also, wie er offen zu Protokoll gibt, einen „Panzer“ zulegen, damit er sein furchtbares Deutschland überhaupt noch erträgt. Unter diesem deutschen Schützenpanzer verbirgt er dann seine „wichtigsten Gefühle“.
Und weil das nun emotional alles so arg furchtbar ist mit ihm und Deutschland, sucht er händeringend nach Erklärungen, die dann so klingen:„Während unsere Autos auf der ganzen Welt bewundert werden, ernten wir Deutsche als Menschen meist eher ein müdes Lächeln: In vielen Ländern werden wir als „Kartoffeln“ bezeichnet.“ Das allerdings ist so altbacken Rimini, wie es im 21. Jahrhundert auch ziemlich dolle blöd ist. Aber der Mann meint es ernst mit seinem Kartoffelvergleich.
Und er wird damit im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ernst genommen, als hätte man es für bitter nötig gehalten, jetzt aber endlich mal auf Teufel komm raus gegen Thea Dorns “Deutsche Seele“ anzuschreiben und gegen Matusseks „Wir Deutschen“ sowieso.
Um der Wahrheit genüge zu tun: Am Ende seines "Essay-Auszugs" hat Widder dann doch noch so etwas ähnliches, wie einen Bogen versucht und die „Perfektion“ als das eigentliche deutsche Übel ausgemacht. Wie originell!
Und er gibt seinen herkunftsdeutschen Lesern - für Deutsche mit migrantem Hintergrund kann es ja nicht gedacht sein - mit auf den Weg: „Wer das Ziel der Perfektion aufgibt, erreicht nicht zwangsläufig weniger. (...) wir wollen tief im Inneren einfach nur ein bisschen öfter unsere Gefühle auftauen (...) Wer weiß, vielleicht entstünde dabei am Ende sogar ein ganz neues Gefühl von Heimat.“
Das ist Pastor Fliege und Peter Lauster in Personalunion. Das ist eine deutsch-romantische Gefühlsdusseligkeit, die sich nach nichts weniger sehnt, als nach Weihnachtsatmosphäre auf dem Biedermeiersofa unterm röhrenden Hirsch in Öl. Oder etwas neutraler ausgedrückt: Das ist die erschreckende Unfähigkeit, einer Sehnsucht nach Heimat in Deutschland irgendwie auf halbwegs erwachsene und anständige Weise Ausdruck zu verleihen.
Jonathan Widder sehnt sich nach Deutschlandgefühlen. Ja doch, der gute Mann möchte von Seinesgleichen – also von uns – geliebt werden. So geliebt werden, wie immer wieder mal für ein paar Monate in diesem kleinen Dorf in der Ukraine, wo er als Deutscher mit guten Freunden am Tisch sitzend „mit Fragen und Aufmerksamkeiten förmlich überschüttet wird“ die sich ihm „immer wieder mit einem Augenzwinkern ihre Bewunderung versichern.“ Bewundernswert dämlich.
Deutschland-Trilogie Teil I
Jetzt bin ich sicher: Die Affäre Wulff ist gut für Deutschland. Denn sie ist in ihrem Kern vor allem eines: desillusionierend. Anti-Fassade. Die spiralförmig hochkochende Medienkritik an der Person des Bundespräsidenten hat eine restaurative Sehnsucht geweckt. Die kritische Masse „Anti-Deutschland“ wurde also sogar bei den "Deutschen nach den Deutschen" überschritten.
Einfacher gesagt: Das Bundespräsidentenamt taugte nur scheinbar gut als Spitze der deutschen Wertepyramide. Angesichts der sichtbar gemachten Entwertung des Amtes durch Wulff wird schlagartig deutlich, das es darunter überhaupt keine Wertebasis mehr gibt! Völlige Leere. Und die Spitze nach dem Wulff-Gau ersatzlos weggebrochen.
Klar: Auslöser hätte auch jedes andere staatstragende Ereignis sein können. Da hat Christian Wulff einfach nur Pech gehabt. Der hochgeschwappte niedersächsische Klüngel war schlicht der schmuddelige Tropfen zuviel auf der emotionalen Landkarte der Deutschen. The final Countdown.
Zunächst einmal: Werte haben sich immer schon zyklisch von der Basis entfernt, an der sie entstanden sind. Dass hat etwas mit einem natürlichem Hang zum Konservieren und Restaurieren zu tun. Mit der Angst vor Vergänglichkeit. Vor dem Tod.
Allerdings: Der Deutsche versteht sich längst nicht mehr als aktiver Teil einer Wertegemeinschaft. Da wir aber neben „Deutschland sucht den Superstar“ und der „RTL-Supernanni“ noch nicht völlig auf Werte verzichten wollten, haben wir unsere Werte Stück für Stück entdemokratisiert, zur Hochkultur erklärt – also von oben herab zur Verwaltung freigegeben. Das ist bequem und beruhigend.
Zum Spielball erklärt, fielen diese Werte dann weich irgendwo zwischen David Precht und Helmut Schmidt – also zwischen Supermarktfeuilleton und der Gnade des Vergessens. In einem perfekten Deutschland. In einer potemkinschen Kulisse irgendwo zwischen der Silvesterfeier vor dem Brandenburger Tor und einem sich als öde Litanei durch Lanzsche Talkshows fortpflanzenden urban-berlinerndem Multikulti-Tourismus.
Die Deutschen nach den Deutschen als Weltbürger mit Deutschem Bundespräsidenten. Und das Modell funktionierte zunächst recht gut. Die Unwucht ging allein von Wulff aus. Trotzdem wäre es ungerecht, ihm heute vorzuhalten, er sei als Bundespräsident nicht in Erscheinung getreten. Das stimmt zwar. War aber fester Bestandteil der Inszenierung.
Gäbe es eine Betriebsanleitung für den Job des Bundespräsidenten, stände da spätestens seit 1985, seit Weizäckers Rede zum 8. Mai: Es ist alles gesagt. Die Figur ist komplett ausgezeichnet. Der Set steht, der Plot ist geschrieben, die Rollen sind verteilt. Mehr geht nicht, alle Lücken gefüllt, Buße getan. Ab jetzt wird ein Lebensgefühl Deutschland nur noch ausgesessen, ausgehalten,ausgeschwitzt. Status Quo.
Folgerichtig scheiterten auch Figuren wie Friedrich Merz kläglich, der mit seiner fad ausformulierten Leitkulturdebatte in ein Wohlgefühl hinein stolperte, wie Michel aus Lönneberga in seinen Holzfigurenschnitzer-Büßerschuppen. Weg mit dem. Und weg ging er.
In der deutschen Wertemonarchie mit ihrem nach 1985 zur Ikone erstarrten Wertekönig Weizäcker zuckte keine einzige nationale Wimper mehr. Selbst 1992, als mit der Verfassungsänderung Artikel 23 die Abwicklung der deutschen Nationalstaatlichkeit beschlossen wurde, kam es gerade mal zu einem unbeherrschten nervösen Lidzucken im rechten CSU-Augenwinkel. Und selbst das wurde peinlich berührt weggewischt und zu Tode ignoriert.
Aber, und da kommt die Wulffsche Tragödie ins Spiel: Wer Werte so hoch aufhängt, dem reichen auch welche aus Pappmaschee. Als Illusionsmaschine. Die Außenwirkung.
IKEA: Möbel, die wie Möbel aussehen, und doch nur eine Verfallzeit von Schaufensterdekorationen haben. IKEA-Wulff eignete sich dann folgerichtig auch als der perfekt dekorative Werteverwalter, das Amt des Bundespräsidenten auszufüllen.
Wer heute behauptet, der Mann wäre auf seinem Platz nicht feinjustiert gewesen, irrt. Seine Rede zum Papstbesuch lobte sogar der Vatikansprecher als "klar und ehrlich.“ Und der STERN bedauerte kurz nach der Hickhack-Wahl mit Gauck als Verlierer, dass ein Mensch wie Wulff, der so gut für das Amt geschaffen sei, so wackelig hineingekommen sei.
Die Piratin Julia Schramm schrieb in ihrer Hauptseminararbeit „Zu den Grundlagen der bundesrepublikanischen Deutschen Nation“: „Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging auch die deutsche Nation zu Grunde, erst mit der Gründung der Bundesrepublik bzw. DDR wurde die (geteilte) deutsche Nation wieder hergestellt so zumindest die populäre Annahme, da man gewöhnlich davon ausgeht, dass eine Nation staatliche Grenzen benötigt. Doch ist das Konzept einer Nation nicht viel mehr und vor allem abstrakter und komplexer, als es eine durch Staatsgrenzen umschlossene Bevölkerung wäre?“
Und wie recht sie da mit ihrer Fragestellung hat, beweist die Universalität ihrer Einsetzbarkeit: „Ist der Werte-Pool für eine Nation nicht viel mehr und vor allem abstrakter und komplexer, als ihn ein Pappmaschee-Bundespräsident alleine jemals absichern könnte?“
Aber zurück zur Eingangsfrage, warum die Affäre Wulff so wichtig für Deutschland ist.
Die Antwort ist so einfach, wie die Debatte darum viel zu lang und ausufernd: Surrogate taugen nicht zur Vollwertigkeit. Sie ähneln vom Aussehen und Geschmack einem hochwertigen Produkt, sind aber in der Herstellung lediglich deutlich billiger. Oder Metaphern befreit: Wenn wir unsere Wertegewinnung nach oben wegdelegieren und diesen Prozess damit entdemokratisieren, brauchen wir uns nicht wundern, wenn wir am Ende ganz drauf verzichten müssen.
(SUBWAY Kolumne Februar 2012)
http://www.subway.de/aktuell/lebensraum/kolumnen/artikel/die-heidberg-trimm-dich-fit-kackirunde-13979.html
Seltsam, die ersten Eindrücke des neuen Jahres wirken stärker. Fast so, als hätte der Jahreswechsel tatsächlich die Speicherplatte nachhaltig formatiert. Sinneseindrücke, als liefe ein verlängertes Weihnachtsfest. Unterschwellig von der irrigen Frage begleitet: „Kommt jetzt noch was? Kommt noch was? Oder war’s das schon?“
Aber vielleicht liegen diese
Jahreswechselbeschwerden ganz profan an dieser neumodischen E-Zigarette. Ja, ich gehöre jetzt auch zu den Elektrosmog-Rauchermännchen. Und ja doch, es sieht auch bei mir nicht weniger albern aus als bei anderen. Bei jedem Zug den Finger am Abzug und dann dieses infantile Erstaunen in Endlosschleife, das da ohne Feuer Rauch entsteht. Adieu du gute alte WEST im Big Pack. Adieu Du liebgewonnene Raucher-Coolness, die für sich genommen doch längst so deplatziert war, wie Cowboystiefel im 21. Jahrhundert.
Aber bleiben wir ehrlich: So eine E-Zigarette hat nichts Innovatives. Sie ist piefigster Mainstream. Inklusive der dazugehörigen diffusen Gefahrdiskussionen und der nicht wegzuleugnenden Oberkopfschmerzen. Entzug oder Nikotionüberdosierung? Maßvoll bleiben bleibt also auf jeden Fall schwierig.
Maßlos sind nur Babys. Auch ich sauge an der Elektrischen wie an der Mutterbrust. Angeblich sollen Raucher zu einem erhöhten Anteil Flaschenkinder sein, die so ihr Defizit Mutterbrust nachholen. Ich bin seit der Pubertät eher arschfixiert. Inwiefern das nun wieder mein Sucht – und Rauchverhalten beeinflusst hätte
– keine Ahnung.
Anyway - Rauchen auf der Wii sieht eh bescheuert aus. Und der neumodische kleine schwarze Kasten ist bei uns die nächste folgenschwere Neuerung 2012 und steht seit Weihnachten unter dem neuen 127er Prisma-TV.
Wahnsinn: Beim Auspacken der Wii fielen mir vier dicke Bedienungsanleitungen entgegen. Aufgeben? Nein, die erwartungsfrohen Blicke der Kinder erzwingen das Weitermachen. Was für eine Zumutung.
Irgendwas an der Plastikkiste soll interaktiv sein und sich in irgendetwas einwählen? Ist das nun ein Computer? Kann der selbstständig Internet? Werde ich heimlich gefilmt, wenn ich mich aufs wacklige Balance-Board stelle und taucht das irgendwann auch noch ungefragt im Netz auf? Den Kindern sind so wichtige Vorüberlegungen schnurz. Und glücklicherweise finde ich dann auch noch eine Schnellaufbauanleitung.
Morgen fahre ich aber auf jeden Fall noch zum IKEA und kaufe ein blickdichtes Rollo dazu. Denn wenn ich abends mit dem Hund Kackirunde mache, zappeln sie schon in jedem zweiten Wohnzimmer: Bewegte Familien die bei offener Gardine springen, hüpfen und dicke Hüften kreisen lassen.
Will man freiwillig so bescheuert aussehen?
Ich finde das fast noch verstörender, als an der roten Ampel gegenüber vom Großkino C1 den strampelnden Hausfrauen im vollverglasten Sportstudio auf den Trimmfahrrädern zuzuschauen.
Das Restpositive: Nintendo hat die Familien wieder im Wohnzimmer zusammengeführt. Wir haben jetzt eine eigene „Wii fit“. Wir sind Teil der Renaissance des „Trimm Dich fit“ der 1970er. Damals die Geburt des „Gefällt-mir-Daumens“, der viel später Facebook berühmt machte.
Im Braunschweiger Stadtteil Heidberg an der Kieskuhle gab es 1975 auch so einen Trimm-Pfad. Man startete Bushalteschleife Linie 2 und es endete irgendwo im Mascheroder Holz. Als erstes gingen die Hinweisschilder zu Bruch, dann die hölzernen Geräte. Damals brauchte es für Vandalismus nicht einmal Migranten. Der gute Heidberger Junge ließ sich die Butter nicht vom Brot nehmen.
Heute hat sich dort ein landschaftlich anspruchsvoller Hundekacki-Parcour etabliert, dessen Hinterlassenschaften in schneereichen Wintern einfach wieder plattgerodelt werden. Und beim Wii-Abfahrtslauf sieht man auch aus, als gings darum ein dringendes Geschäft zu erledigen. Gut – Schnee fällt dazu noch keiner. Aber das kommt vielleicht auch noch. Wiidersehen.
Nein, der Oetinger Verlag hat Christian Wulff als kleines Dankeschön keinen zinslosen 500.000 Euro Kredit angeboten. Ob Wulff das noch trauriger gemacht hat, als er es ohnehin schon war, bleibt unklar. Jedenfalls kann man das auf keiner Mailbox erfahren, das steht auch nicht in der BILD-Zeitung und auch im TV-Wiedergutmachungs-Interview zur besten Sendezeit fand das Kinderbuch „Irgendwie anders“ nicht statt.
In seiner Weihnachtsbotschaft hatte Wulff das Blaumännchenbuch beworben, während die Kamera über die bundespräsidiale Weihnachtsgesellschaft hinwegglitt, die dann auch folgerichtig irgendwie anders aussah.
Aber wozu braucht Wulff überhaupt noch 500.000 Euro? Bis zum Lebensende sind ihm jetzt schon 300.000 Euro jährlich sicher. Ob er Präsident bleibt oder nicht. Das allein wäre schon ein gewichtiges Argument, ihn im Amt zu belassen. Sein möglicher Nachfolger würde ja auch bezahlt werden müssen. Wie viele Präsidenten a.D. leben aktuell auf vergoldetem Altenteil?
Walter Scheel: lebendig. Richard von Weizäcker: lebendig. Roman Herzog: lebendig. Horst Köhler: lebendig. Das sind 1,2 Millionen jährlich und ungefähr der Integrationshilfe-Etat Berlin-Brandenburgs für den selben Zeitraum oder irgendwie anders erklärt: 10.000 Doppelzimmer-Übernachtungen inkl. frischer Bettwäsche in einer kleinen Pension auf Norderney.
Wulff-Befragerin Bettina Schausten war noch nie auf Norderney und hat dort auch keine Freunde. Verblüffend also, was uns die TV-Moderatorin im Wulff-Interview weismachen wollte: Es wäre doch normal, dass man Freunden 150 Euro pro Nacht für eine Unterbringung bezahlen würde. Sie jedenfalls würde das immer so machen. Und Wulff konterte: „Dann unterscheidet Sie das von mir im Umgang mit den Freunden.“ Das war dann auch die einzig einigermaßen unterhaltsame Szene des lauen Mainzer Tribunals. Eine perfekte Inszenierung. Irgendwie anders als erwartet? Nein.
Die Lücke, die Wulff vor dem Interview blieb, um im Amt zu bleiben, war denkbar schmal. Zumindest da kann man sagen: Der Show-Souverän hat sie souverän durchschritten. Jede andere Behauptung wäre tatsächlich falsch. Man kann nur ahnen, wie viele Fachleute und Strategen im Vorfeld an den Antworten gebastelt haben und wie viele Stunden es dauert, dass dann auch noch mit der rauen Stimmlage des Sünders einzustudieren und zum Vortrag zu bringen.
Ob er nun ein Präsident auf Bewährung sei, wies Wulff entrüstet zurück. Er verwies aber mehr als einmal – und wie eine irgendwie andere Diekmann-Drohung wirkend – auf eine große Schar Anwälte, die für ihn tätig seien. Selbstverständlich auf eigene Kosten und nicht über das Bundespräsidentenamt abgerechnet, wie er einstudiert hinzufügte. 400 Fragen hätten seine Anwälte beantworten müssen. Das allerdings ist erstaunlich, könnte man doch annehmen, dass Wulff Fragen an Wulff selbst beantworten könnte.
Es geht also um Winkelzüge, Formulierungen und Wahrheitskonstrukte. Wulff selbst war sich also durchaus bewusst, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Und seine Schicksalslage war ja nicht nur irgendwie, sondern ganz anders als die seines Vorgängers Köhler. Der musste gehen, weil er die Wahrheit gesagt hat. Wulff bleibt, weil er gelogen hat. So einfach ist das.
„Wem es in der Küche zu heiß ist, der darf nicht Koch werden wollen. Wie es Harry S. Truman gesagt hat. Und deswegen muss man offenkundig auch durch solche Bewährungsproben hindurch.”, erklärt Wulff zum Schluss des Interviews. Und damit sieht er sich dann also doch als Präsident auf Bewährung, wie die Frau Schausten am irgendwie verkatert wirkenden Deppendorf vorbei insistiert hatte.
Und mit Truman schließt sich dann auch wieder der Kreis zum Oetinger Verlag. Denn dort erscheint erfolgreich das „Astrid Lindgren Kochbuch“ mit leckeren Gerichten aus Katthult und Lönneberga. Und immer, wenn der schwedische Michel was Dummes gemacht hat, muss er ohne Essen in den Schuppen, Holzfiguren schnitzen.
Der deutsche Obermichel hat seine Weihnachtskrippe sicher auch längst zusammen. Warum er sie zur Weihnachtsansprache nicht unter den schönen Bundespräsidialamtsbaum gestellt hat, bleibt allerdings ein Rätsel.